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Rubrik Philosophie: Rezension zu Türcke: "Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft"

von W. Pfreundschuh

Erschienen: 2002
'Der tolle Mensch - Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft'
Nietzsche - ist in seinem Denken ein elementarer Gegenpol zum Marxismus bei der Überwindung der Metaphysik, der religiösen Begründung des menschlichen Lebens. Die Frage bleibt darin, was die Gottverlassenheit des Menschen ausmacht. Was Marx hierbei (wie auch schon Hegel und Feuerbach) als Entfremdung des Menschen vom Menschen objektiv versteht, ist für Nietzsche subjektiv: Die Unangemessenheit des Menschen in seinen Regungen und Trieben gegenüber der Notwendigkeit der Selbstverantwortung. Im Widerstreit dieses Antagonismus, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Sklave und Herrenmensch, verläuft bei Nietzsche die Geschichte im Kampf um die Macht der Bewertung, um die Deutungshoheit des Menschen über die Notwendigkeit seiner (Selbst)Beherrschung, die sich durch eine Elite besonders begabter Menschen, einer Klasse psychologisch und philosophisch begabter Intellektueller im Willen des freien Intellekts umsetzt.
Was heute vielleicht nicht mehr so deutlich ist: Die Bekämpfung von Machtstrukturen war in der Tat Nietzsches ursprüngliches Ansinnen. Leidenschaftlich ging er gegen die Verfestigung von Begriffen und Lebensformen an. Ihm ging es um die subjektive Bewegung der Geschichte, um die Kunst, Leben als Kampf menschlicher Kreativität im Widerspruch von der Wildheit seiner Natur und der Notwendigkeit ihrer Formierung zu entwickeln. Der Dekonstruktivismus hat keine wesentlich andere Perspektive als der Nietzscheanismus. Da in der Linken angesichts ihrer substantiellen Schwächen eine Institutions-, Wissenschafts- und Kulturkritik im Nominalismus verharrte, haben sich die Impulse des Dekonstruktivismus (namentlich über Heidegger, Bataille, Deleuze und Foucault) teilweise durchgesetzt. So ist eine Aufhellung der Begründung und die Erläuterung der Anfälligkeiten und Zwangsläufigkeit dieser Denkweise angebracht.
In dem Buch von Christoph Türcke ist der Denkzusammenhang Nietzsches gut dargestellt. Er zeigt dessen Zwangsläugigkeit als das 'Schicksal' von Nietzsche selbst, der im Kern die Vernunft als intellektuellen Wahnsinn fasst, der seinen Sinn sucht. Aber Türcke ist an einer entscheidenden Stelle völlig unkritisch: Dort wo die Seele zum Teufelswerkzeug wird, wo sie sich im Sinne Nietzsches beherrschen und sich ihr Gedächtnis 'einbrennen' lässt. Dort wird sie zur Lust der Gewalt und zur Ästhetik des Grauens. Dass dieser Schluß nicht aus einer zufälligen Verrücktheit Nietzsches herrührt, sondern sich aus seinem gesamten Denkzusammenhang, aus dem absoluten bürgerlichen Intellekt als Verallgemeinerung des Selbstbezug des Individuums, erklärt, wird in der Rezension aufgezeigt. Was ihm als Fortschritt erscheint, weil er sich darin allgemein macht, wird zur Peitsche gegen das Leben. Es versteckt sich hinter der Rationalität der Rückbeziehung auf Nietzsche ganz offensichtlich etwas anderes, etwas ausgesprochen Nietzscheanisches: Die unendliche Selbsterregung des Intellekts, der sich endlich wieder als Stachel der Notwendigkeit fühlen will. Die still verehrte und geneidete Sinnlichkeit des nietzscheanischen Denkens ist der Betablocker jeder Emanzipation: Die Blockade jeder Empfindung für Unrecht, Ohnmacht und Täuschung, die doch in seinem Denken schon so übersinnlich aufbreitet und zugerichtet ist.

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