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Themenabend der Kulturkritik München:
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Lebensangst und politische Kultur_

Kurzfassung:

Dass Angst und politische Kultur miteinander zu tun haben, ist alleine schon an der Parallelität von wirtschaftlichen und politischen und psychischen Krisen festzustellen. Dass letztere aber oft als Wahrnehmungszustände ein Selbstzerstörungspotenzial bergen, die dem Machtpotenzial der politischen Kultur entspricht, ist kaum bekannt. Eine Beziehung von Politik und Psyche beweist peinliche Lebenszusammenhänge einer Gesellschaft, in der Geld als höchstes Gut angesehen wird. Es wird deshalb selten darüber geredet oder geschrieben, dass es vielen Menschen in Deutschland auch seelisch schlecht geht, dass es weit mehr Selbsttötungen als Tote im Straßenverkehr gibt, dass über 10 % der Bevölkerung an Depressionen leidet und dass die Nachfrage an Lebenshilfen beständig zu- und das Angebot hierfür abnimmt.

Lebensangst ist keine Existenzangst sondern eine Identitätsangst, die aus dem zwischenmenschlichen Lebensalltag sich herausbildet und oft schlagartig das Leben eines Menschen durchsetzt. Da scheint es erst mal weit hergeholt, dies in Zusammenhang mit einer Gesellschaftsform, mit dem Kapitalismus zu sehen. Aber darum soll es an diesem Abend gehen: Um Versuche einer Identifikation von Identitätsproblemen mit dieser Gesellschaftsform. Es wird sich zeigen, dass dies so weit her garnicht ist und dass eine Identitätsfindung nicht ohne eine Kritik der politischen Kultur, die Kritik ihrer Lebenswerte möglich ist.

Grundlagentext hierzu:
http://kulturkritik.net/psychologie/lebensangst

Die Diskussion in audioup1a2e1a1a3b

Begründung:

Die politische Kultur gibt sich gerne als ebenso notwendig wie gewöhnlich, als Lebensnotwendigkeit des Alltags. Sie setzt Lebenswerte ein, um ihren politischen Willen durchzusetzen und appelliert an die Vernuft, um den Notwendigkeiten der Gegebenheiten dienstbar zu sein, um den Sachzwang unhinterfragter Verhältnisse durchzusetzen. Bisher gab es Institutionen und Wissenschaften, die sich dafür eingesetzt hatten, die sich für die Reparaturen an Funktionsstörungen und Ausfällen zur Verfügung gehalten haben. Doch die Zeiten des bloßen Ausbesserns, der Wiederherstellung des Einklangs von Vernunft und Zweck durch vernünftige Aufklärung, sind vorbei. Die Krise ist total: Die Notwendigkeiten der Verwertungszwänge machen für die Menschen keinen Sinn mehr. Die Entwicklung der Menschheit steht selbst auf der Kippe. Angst um das Leben von Mensch und Natur greift um sich, die Perspektiven werden final. - Aber immerhin geht es dabei um das Leben, um die Fragen, wie es weitergehen kann und muss.

Lebensangst ist etwas anderes, ist eher eine sublime Selbstaufgabe, eine in der Selbstwahrnehmung aufgehobene Angst um das Leben, die darin keinen wirklichen Sinn mehr zu haben scheint, sondern als Zustand die betroffenenen Menschen überkommt, wenn sie verspüren, dass sie in den Lebensgefühlen ihres Alltags verschluckt sind, entleibt von aller Erkenntnis, keine Vernichtungsgefahr mehr erkennen, weil sie die schon in sich tragen als Vernichtungsgefühl, als ein fast selbstverständlich gewordenes Gefühl, vernichtet zu sein.

Lebensangst gibt es als Wahrnehmungszustand besonders oft bei jüngeren Menschen. Sie tritt entweder latent, schleichend oder als Panikattacke wie "aus heiterem Himmel" auf und es wird darin das Unvermögen erlebt, eine Wahrnehmungsidentität zu erlangen. Sie besteht aus einem Vernichtungsgefühl eigener Äußerung und Beziehung und kann Menschen zu extremen Reaktionen bis hin zur Selbsttötung treiben.

Kehrt man das Vernichtungsgefühl eigener Wahrnehmung um, so entnimmt man ihm das wirkliche Gefühl eigner Nichtigkeit, die Identitätslosigkeit eigener Selbstwahrnehmung durch die Mächtigkeit und Allgegenwärtigkeit fremder Selbstwahrnehmung. Mitten in den Gewohnheiten des Alltags erscheint die Welt plötzlich übermächtig, ohne dass hierfür ein Grund ersichtlich ist. Bei genauerem Nachvollzug stellt sich oft heraus, dass alles als "zu bekannt", "zu gewöhnlich", "zu geläufig", "zu dicht" aufgefasst wird. Lebensangst scheint unmittelbar aus den Gepflogenheiten und Gewohnheiten des Alltags hervorzugehen. Sie begründet sich in dem, dass alles, was darin das Leben ausmacht, nichts ist, dass alle Wirklichkeit darin vernichtet erscheint, eigene Wirkung zerstört.

Lebensangst birgt somit die Erkenntnis einer vernichtenden Wirklichkeit, einer Welt, in der eigene Verwirklichung unmöglich ist, weil darin "alles was entsteht, nur wert ist, dass es zugrunde geht" (Mephisto in Goethes "Faust"). Von daher ist Lebensangst das außerordentliche Gefühl einer Selbstaufhebung menschlicher Identität als grundlegendes Gefühl von Menschen in einer Gesellschaft, worin die Gleichgültigkeit ihrer Beziehungen durch die Geltungsmacht des Geldes bestimmt ist. Diese besteht als zwischenmenschliche Beziehungswelt nicht allein aus Sachen, sondern auch in den Lebensvorstellungen, Ideologien und Lebenshaltungen der Menschen. In der Lebensangst fällt die Angst um die eigene Existenz mit der Macht der Wertvorstellungen zusammen.

In der Lebensangst vermengt sich das Identifikationsvermögen eines Menschen mit seiner Gefangenschaft in Lebenswerten, die er gegen sich wendet: Das Vernünftige, das, was lebensnotwendig ist, dem zu folgen ist, um Leben zu können, verschließt dann dem betroffenen Menschen den Zugang zu sich selbst, nimmt ihn gefangen mit den Werten, die er für sein Leben hat. Liebe, Sittlichkeit, Moral, Religion usw. werden zum Fallstrick seiner lebendigen Beweglichkeit, seiner ihm nötigen Lebensäußerung.

Dies aber ist kein theoretischer Zirkelschluss, ein sich selbst aufhebendes oder bedrängendes, also subjektiv falsches Denken oder Bewusstsein, das falsche Vorstellungen von sich selbst und seinen Bedingungen entwickelt hat und sich lediglich über seine Fehler und Widersprüche aufzuklären hätte, um hiervon frei zu werden - es ist ein praktisches Verhalten zu sich selbst, das nicht aus sich selbst kommen kann, sondern aus einem Verhältnis, das sich in dem verschließt, wo es sich bindet und ausschließt, was die Bindung bedroht. Es ist ein Verhältnis, das ausschließlich sein muss, um diese Bindung zu bewahren: befestigtes Leben, Lebensburg. Nur im Einschluss aller lebensnotwendigen Momente scheint Identität möglich und so muss abgedrängt und bekämpft werden, was sich dem als anderes, als fremdes Leben nähert. Es ist die Lebensgrundlage der bürgerlichen Seele, die in der Abgetrenntheit von gesellschaftlicher Wirklichkeit ein Wesen findet, das sie für sich nötig hat, und die es darauf absieht, ihre Gefühle für sich selbst hieraus zu gewinnen. Leben teilt sich ihr vor allem als Selbsterleben mit und wird so zur Notwendigkeit einer beständigen Selbsterfahrung, die bewerten muss, was für sie gut und was für sie schlecht ist. So binden sich die hierin konstituierten Lebenswerte an die Lebenserfahrung in einem Zirkelschluss, der eine Erfahrungswelt des Gefühlslebens ausbildet, die sich beständig in der Selbstwahrnehmung bestätigen muss.

Und dieses Müssen ist doppelt: Es entspringt einer Empfindung, die nicht wirklich sein kann, und einem Gefühl, dass Wirklichkeit nicht ist, dass in Wirklichkeit nichts ist. Nur die Lebenswerte bestimmen das Leben, und zu erkennen, was darin wahrgehabt wird, ist ihnen gleichgültig. Sie betreiben lediglich die doppelte Verneinung der Wirklichkeit, indem sie ihre Selbstbezogenheit zum Lebensmaß und zur Lebenssubstanz macht, die nurmehr Erkenntnisse zulässt, die der Selbstwahrnehmung nützen, und die es also ermöglichen, dass ein Mensch durch seine Beziehungen auf andere sich ausschließlich und ausschließend auf sich selbst bezieht.

Lebensangst ist eine Angst, welche eine Selbstisolation aus sich hervorbringt, wenn sie sich nur noch um sich selbst dreht, zirkulär geworden ist, wenn sie nur sich wahrhat, indem sie anderes wahrnimmt. Es ist die Angst der eigenen Wahrnehmung, welche die Erkenntnis birgt, das es Selbstwahrnehmung in Wirklichkeit gar nicht gibt. Dort nämlich gibt es auch die Anderen.

In dieser Erkenntnis steckt die Erkenntnis einer Verkehrung: Das Identitätsproblem, das Menschen in der bürgerlichen Kultur haben, sobald sie ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen können, ist darin das Unsinnliche derer Sinnlichkeit, die Ungewissheit dessen, was die Wahrnehmung wahrhat. Oft nennt man es das Unheimliche, das Gespenstische, das Geisterhafte, das inmitten gewohnter Wahrnehmungen durchbricht. tatsächlich ist es etwas Geistiges, das Geistige, das von seinem Sinn getrennt ist. Aus den gewohnten Lebensverhältnissen drängt ein Geist hervor, der die Wahrnehmungsidentität bedrängt, bis er sie sich schließlich unterwirft. Angst wird zu einem Wahrnehmungszustand der Panik, zu einem Nicht-Sein können, wo man ist und einem nicht Anders-Sein können, als man ist. Jeder Funke Selbstgewissheit erscheint als höchstes Gut.

Doch was kann der abgetrennte Geist anderes sein, als die entäußerte Selbstgewissheit, als das, was hiervon nicht mehr wahrgenommen wird in den Lebensumständen des bewohnten Alltags? Es muss etwas Gewisses in der Form deiner Ungewissheit sein, etwas, das nur deshalb ungewiss ist, weil es sich unter solchen Umständen garnicht mehr bilden und bestätigen kann, weil es nicht nur sich selbst ausschließt, sondern von den Verhältnissen auch wirklich ausgeschlossen ist. Der eigene Lebensraum war zu einer Falle der Selbstverständigung geworden, die ihre eigene Nichtigkeit als Kulturraum erzeugt hatte. Und die Erkenntnis darin ist, dass diese Kultur selbst nicht für den betroffenen Menschen gewiss sein kann, ihn nichtig setzt, wo er wirklich ist und seine Wirklichkeit entsetzt, sofern er sie ertragen muss. Es sind Verhältnisse einer Scheinwelt, die sich selbst versetzen, die verrückt sind. Und darin liegt die Grundlage der Kritik, die zugleich eine Form der Selbsterkenntnis ist und die Emanzipation von Menschen in der bürgerlichen Kultur anstiftet: Sie muss verrückt sein.

Diese Kritik ist vor allem solange schwer, solange sie zugleich auch Selbstkritik sein muss. Das sich überwinden ist eben auch nötig, wenn der eigene Lebensraum zu einer Falle geworden war und alles, was darin gebildet, zugleich verbildet ist. Kritik sucht die Unterscheidung, um das Eigene (wieder) zu entdecken. Und trotz dieser konservativen Seite, die ihrer Isolation entspricht, ist sie dahin treibend, sich wirklich in anderen Menschen zu erkennen, sich dort erkennen zu müssen, um an ihr Ende zu kommen, um sich als Kritik zu verhalten. Sei dies in Sprache oder Aktion - in jedem Fall hört die Kritik auf, Selbstkritik zu sein, wo sich Wirklichkeit darin bestätigt, dass Kritik Wirkung hat, dass sie selbst politisch ist, wo Kultur nur politische Wirkung will, wo sie also politische Kultur ist. Wenn solche Kulturkritik wirklich wird, hat sie eine enorme Sprengkraft für die Kritik der politischen Willensmacht überhaupt. Und dies letztlich ist das Kapital in seiner höchsten Form als politischer Wille aller gesellschaftlichen Bestimmung, als allgemein abstrakter Zweck seiner gesellschaftlichen Macht und Gewalt.

 

Quellen:

zu Gewohnheit
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=gewohnheit

zu Lebensangst:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=lebensangst

zu Lebenswerten
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=lebenswert

zu Lebensburg
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=lebensburg

Leben:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=leben)

zu Liebe:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=lieb)

zu zwischenmenschliche Verhältnisse:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=zwischenmenschlicheverhaeltniss)

zu Scheinwelt:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=scheinwelt

zu Seele:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=seele

zu Verrücktheit:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=verruecktheit)

zu Selbstbehauptung:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=selbstbehauptung)

zu Zwang:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=zwang)

zu Depression:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=depression

zu Sucht:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=sucht

zu Kulturkritik:
Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/lexex.php?lex=kulturkriti)