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Die Theorie des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus (31) ist mehr als nur eine Politikvariante des Kapitalismus. Er präsentiert sich gleichermaßen als Theorie und universelles gesellschaftliches Konzept. Die Forderung nach uneingeschränkter Autonomie für die Vermögensbesitzer wird vom Neoliberalismus als Forderung nach allgemeiner Freiheit vertreten. Damit die individuelle Freiheit als oberstes Ziel einer Gesellschaft möglich ist, müssen sich alle Mitglieder der Gesellschaft allgemeinen Verhaltensregeln unterwerfen: Sie erkennen das Privateigentum an, akzeptieren den Markt und den Wettbewerb als Organisations- und Entwicklungsmethode, weil diese der Politik überlegen seien, bejahen die Vertragsfreiheit Ünd unterwerfen sich der Vertragsvollstreckung. Aufgabe des Staates ist es dann, diese allgemeinen Verhaltensregeln notfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Einen darüber hinausgehenden Zweck hat dieser 'schlanke" Staat nicht. Das Wettbewerbsprinzip und der Markt sollen nicht nur die wirtschaftlichen Aktivitäten, sondern vor allem das gesellschaftliche und politische Zusammenleben bestimmen. "Der Staat muss sich eines großen Teils seiner Aufgaben entledigen und sie sozusagen seinen Bürgern zur Selbstorganisation in der Wirtschaft zurückgeben. Die soziale Vollversicherung zum Beispiel ist nicht seine Sache. Das kann der Markt besser. Von der Polizei und der Armee abgesehen, liefert der Markt fast alles kostengünstiger - und Arbeitsplätze dazu." (32)

Soziale Gerechtigkeit kann es in diesem System nicht geben, weil sie nicht definierbar ist. Friedrich von Hayek, der Hohepriester des Neoliberalismus, fordert statt dessen die uneihgeschränkte Verfügungsautonomie durch die Eigentümer bis zur völligen Vertragsfreiheit ein. Der daraus resultierende "finanzielle Gewinn", Reichtum und soziale Ungleichheit sind nicht nur zu tolerieren, sondern zu begrüßen. Hayek: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig." (33) Denn der individuelle Wohlstand und Reichtum sei "die Grundlage der Anerkennung durch andere" und sporne so als sichtbarer Erfolg, "als unpersönliches SignaP zum Nacheifern an. Nach Auffassung der Neoliberalen ist es "offensichtlich, dass in unserer Mitte großes Elend gegeben sein muss, welches das normale Ergebnis von Fehlverhalten ist und von diesem nicht getrennt werden sollte". (34) Lediglich solche Personen, die .'aus verschiedenen Gründen ihren Lebensunterhalt,nicht auf dem Markt verdienen können, wie etwa die Kranken, die Alten, die physisch und geistig Behinderten, die Witwen und Waisen" (35) sollen eine soziale Mindestabsicherung erhalten. Dafür war selbst Hayek: "Es gibt natürlich keinen Grund, warum eine Gesellschaft, clie so reich ist wie die moderne, nicht außerhalb des Marktes für diejenigen, die am Markt unter einen gewissen Standard fallen, ein Minimum an Sicherheit vorsehen sollte. ... Gerechtigkeitsüberlegungen (aber geben) keine Rechtfertigung für eine Korrektur' des Marktergebnisses" (36) ab. Dies schließt Unternehmerbeit räge zur Sozialversicherung aus 'und legt den Schwerpunkt auf freiwillige Almosenvergabe und Wohltätigkeit, was zudem über gemeinnützige Einrichtungen Steuern spart.

Gruppen dagegen, die mehr "soziale Gerechtigkeit fordern, verhindern, dass die "fruchtbare Energie der Ungleichheit' freigesetzt wird, wiel es der Reaganomicer George Gilder formulierte.'Die .'grundsätzliche Unmoralität allen Egalitarismus", wie Hayek diese Forderung qualifiziert, lähme die Gesellschaft, blockiere deren eVolutionäre Entwicklung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit sei demnach ein historischer Rückschritt, ein Anachronismus und zudem, vom Standpunkt eines höheren Zivilisationsstandes, amoralisch. Aber wegen des allgemeinen Wahlrechts müssten sich die Parteien der Unterstützung der Schlechtesten und der ökonomisch Ineffizienten versichern. Der Staat sei zur Beute organisierter Interessen, allen voran der Gewerkschaften geworden. Hayek: "Monopolistische Praktiken, die heute das Funktionieren des Marktes bedrohen, sind seitens der Arbeiter viel gravierender als seitens der Unternehmer, und ob es uns gelingt, diese wieder zu beschränken, wird für die Erhaltung der Marktordnung entscheidender sein als irgend etwas sonst." Deshalb müssten die Kompetenzen des Oarlanients so eingeschränkt werden, dass der von den Schlechtesten angestrebte Egalitarismus als institutioneller Zugriff auf das Privateigentum unterbunden, ihre Position als Mehrheitsbeschaffer unbedeutend wird. Gegen EinmIne und Gruppen, die sich diesen Regeln nicht freiwillig unterwerfen und mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit die Autonomie der Eigentümer einschränken und so die Evolutionsfähigkeit der Gesellschaft gefährden, sind dann auch Zwangsmaßnahmen des Staates gerechtfertigt.

Die neoliberale Offensive richtet sich aber nicht nur gegen die parlamentarische Demokratie, sondern auch autoritäre Regimeis in den Entwicklungsländern geraten in das Visier des Neoliberalismus. Allerdings nur, wenn sie das Ziel nationaler Souveränität betonen und sich nicht uneingeschränkt in den Weltmarkt integrieren und ihre Märkte für die Multis öffnen.

Theorie im Angebot

'Revitalisierung' des Kapitalismus durch mehr Marki und "weniger Staat heißt die Zauberformel des Neoliberalismus. Das wirtschaftspolitische Pendant dazu ist die "Angebotsorientierung". Sie ist auf die Verbesserung der Produktions- und Wachstumsbedingungen und die Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit gerichtet. Die Stimulierung der lnvestitionsfähigkeit steht im Mittelpunkt. Dem sollen Steuer- und Kostensenkungen diennen. Gefordert werden Verringerung der Staats- und Sozialausgaben zur Finanzierung dieser Steuersenkungen und Erhaltung der Geldwertstabilität. Nicht mehr die gesamtwirtschaftliche Nachfrage oder gar die Massenkaufkraft, sondern die Unternehmensgewinne werden zur zentralen Größe. Nach der simplen Forderung, je höher die Gewinne, desto höher die Investitionen, desto mehr Arbeitsplätze und desto bessere Löhne, soll die Marktwirtschaft durch Effizienz- und Gewinnsteigerung im Selbstlauf Wachstums, Beschäftigungs- und Verteilungsfragen gleichzeitig lösen.

"Terror der Ökonomie"

Zwangsläufige Folge'neoliberaler Politik ist die beschleunigte Konzentration von Einkommen und Vermögen bei einer kleinen Elite und damit die verschärfte Polarisierung zwischen Nord und Süd, zwischen Reich und Arm. Meoliberalismus, das ist Reaktion auf der gänzen Linie. "Der Neoliberalismus verspricht zwar Freiheit und NichtEinmischung des Staates. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Konzept, das den autoritären Staat legitimiert. Neoliberalismus bedeutet das Ende von Volkssouveränität, von gleichem und allgemeinem Wahlrecht, von wirklicher Demokratie. Neoliberalismus ... ist der erklärte Gegner der europäischen Aufklärung", (38) resümiert der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Schui.

Es ist kein Zufall, dass der Siegeszug des Neoliberalismus in den kapitalistischen Metropolen mit der verstärkten Internationalisierung des Kapitals zusammenfällt. Er liefert dem iratisnationalen Kapital die ideologische Rechffertigung, um letzte nationale Schutzmauern, etWä in den Entwicklungs- und Schwellenländern 'niederzureißen und die Deregulierung und Liberäiäierung der Güter- und Finanzmärkte weitweit durchzusetzen. "Der Terror der Ökonomie" das Diktat des Weltmarktes soll die letzten Winkel der Erde gelteln. Denn aufdem Markt werden nicht nur Waren getauscht", gondern über den Markt wird auch die Macht der Stärksten reproduziert. Deshalb werden Protektionisrhus und nationale Entwicklungswege als wachstums- und entwicklungshemmend diffamiert. Nur die "Öffnung der Märkte" garantiert angeblich Wohlstand. Die Souveränität der Nationalstaaten wird untergraben. Sie fallen unter die Köntrolle einer superprivilegierten Elite, die mit dem internationalen Finanzkapital assoziiert ist. Insofern isf, wie Osvaldo Martinez sagt, "der Neoliberalismus nicht einfach eine Wirtschaftspolitik, die man wechseln kann, sondern er ist eine organische Notwendigkeit des transnationalen Kapitalismus in einem bestimmten, Moment. ... Gleichzeitig ruft er tiefe, für das System sehr zerstörerische Widersprüche hervor. Zerstörerisch nicht nur für die Volkskräfte, für die Linke, für das Volk, für die arbeitende Klasse, sondern auch für das eigene System." (39)

Neoliberalismus und "entfesselter" Kapitalismus

Aber auch auf die Gefahr hin, dadurch die Krisenpotenziale zu vervielfachen, sind die Multis gezwungen, gleichsam in einer "Revolution von oben" alle Kräfte zur "Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw." einzusetzen. Nach der erfolgreichen Konterrevolution, in der die Staaten des, Realsozialismus Osteuropas aufgerollt wurden, blieb das Kapital nicht bei der Restauration der alten Verhältnisse stehen. Mit dem Projekt des Neoliberalismus ergriff das transnationale Kapital die Initiative zu einer weltweiten Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse, bei der es die Macht und die Hegemonie - zumindest bisher - fest in den Händen behielt. (41)

Mit dem Verschwinden der Systemkonkurrenz war der Weg frei geworden, um alle Fesseln zu 'sprengen. Das Kapital konnte in großem Maßstab expandieren und die zu eng gewordenen Verwertungsgrenzen hinausschieben: Es erfolgte eine "äußere" und "innere Landnahme": Übernahme der DDR und Transformation der ehemals soziälistischen Länder Osteuropas, Destruktion nationaler Entwicklungswege und Öffnung der Märkte (Indien, Südkorea, Indonesien, Brasilien, Jugoslawien). Zwar glaubte der Liberale Rolf Dahrendorf noch "Jetzt sind wir endlich so frei, in einer offenen Gesellschaft so viele Spielarten des Kapitalisrnus zu entwickeln, wie wir nur wollen", (42) aber die Realität im transnationalen Kapitalismus ist eine andere. Weltweit setzt sich der "Shareholder Value Kapitalismus" nach angelsächsischem Vorbild durch. Die Multis und die Weltfinanzmärkte diktieren den Staaten die Bedingungen. Internationaler Währungsfond, Weltbank, Welthandelsorganisation verfolgerl überall identische Zielstellungen. Als Folge kommt es zu absolut gleichen Entwicklungen bzgl. Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung, Privatisierung des öffentlichen Sektors und sozialer Bereiche wie Gesundheit, Rente, Bildung, Privatisierung des Wassers,letc. Der Sieg neoliberaler Wirtschaftspolitik eröffnete dem Kapital auch neue Dimensionen.der inneren Landnahme. Mit der Deregulierung und Privatisierung von Post und Telekommunikation, Energi'eversorgung und dem Transportwesen; mit der Privatisierung des sozialen Sicherungssysteme Rente und Gesundheit erschließt sich das Kapital neue Verwertungsräume. Sowohl diese äußere wie auch die innere Landnahme, allem.voran die Privatisierung der großen staatlichenMonopole, verstärken den Internationalisierungsschub des Kapitals.

Globalisierung - eine neue Phase der Internationalisierung des Kapitals

Getrieben von der Entwicklung der Produktivkräfte und der Jagd nach Profit und organisiert durch die Politik, vollzieht sich ein qualitativ neuer Sprung der Internationalisierung des Kapitals in seinen drei Aspekten:

1. Internationalisierung des Handelskapitals: Der Welthandel wuchs in den vergangenen Jahrzehnten weit schneller als das WeltSozialprodukt, wodurch der Anteil des Exports in Bezug auf die Weltwirtschaftsleistung rasch zunahm (siehe auch Grafik auf Seite 17). Wichtige Voraussetzungen dazu waren der Abbau der Zoll- und Handelsschranken und die Etablierung des GATT- bzw. NTORegimes. Dadurch konnte sich ein weitgehend einheitlicher, echter Weltmarkt herausbilden.

2. Internationalisierung des zinstragenden Kapitals: Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods und der nachfolgenden Deregulierung und Liberalisierung der nationalen Finanzmärkte ab Mitte der 70er Jahre, konnten sich die Finanzmärkte global vernetzen. Es entstand ein WeltKapitalmarkt. Geldvermögensbesitzer, institutionelle Anleger ünd Investmentinstitute k8nnen nun uneingeschränkt in globalem Maßstab operieren. Dadurch werden Zinsen, Renditen und Profitraten weltweit vergleichbar und nähern sich einer globalen Durchschnittsprofitrate an. Mit dem WeltKapitalmarkt wurden auch die Grundlagen für die Entstehung eines globalen Marktes für Unternehmen gelegt.

3. Herausbildung transnationalen Kapitals undglobaler Wertschöpfungsketten: Den Kern der kapitalistischen Globalisierung stellt die wechselseitige kapitalmäßige Durchdringung und Verflechtung der Länder und Regionen dar, die zur Herausbildung transnationalen Kapitals in Form transnationaler Unternehmen und transnationater Konzerne führte. Dieser Prozess vollzog sich ab den 90er Jahren in besonders raschem Tempo. Die massenhafte Formierung transnationaler Konzerne mit Tausenden von ausländischen, Tochterunternehmen, führte beim produktiven Kapital, aber auch beim Handels- und Dienstleistungskapital zur Zerlegung der Wertschöpfungsketten und zum Aufbau globaler Produktions, Dienstleistungs- und Handelsnetzwerke.

In diesem Sinne verstehen wir unter den Begriff aler Globalisierung den Zusammenhang von technologischer Entwicklung, Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Bewegungsform des relativen Kapitalüberschusses und der Jagd nach Profit über den ganzen Globus mit allen Folgen für Produktion und Konsumtion, für Politik und Staat, Krieg und Frieden. Dieser Prozess erfasst und verändert alle Lebensbereiche der Menschen wie Arbeit und Freizeit, Lebensstil "Bildung und Kultur. In diesem Verständnis wird mit dem Begriff "Globalisierung" keine neue Kategorie oder grundlegend neue Tendenz der Orgänisation der gesellschaftlichen Beziehungen der kapitalistischen Produktionsweise kreiert, sondern eine qualitative Veränderung, eine neue Phase im historischen Internationalisierungsprozess des Kapitals gekennzeichnet. Die Multis sind sowohl Resultat als auch entscheidende Triebkraft dieses Prozesses.

Literatur:

31) Friedrich von Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen, 1969/ Herben Schui, Die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates und der Neoliberalismus, in "Kapitalismus am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts", Hamburg, 1997 /Herbert Schui u.a., "Wollt ihr den totalen Markt?", München, 1997/ Herben Schui, "Neoliberalismus Der Vers.ch, die Konzentration von Einkommen und Vermögen zu legtimieren, in "Geld ist genug da", Heilbronn, 1996

32) Süddeutsche Zeitung, 9.2.1996

33) Friedrich von Hayek, Winschaftswoche, 6.3.1981

34) Herbert Spencer, Men versus State, nach 'Wollt ihr den totalen Markt', München, 1997, S. 79

35) Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 3, München, 1980, S. 83

36) Friedrich von Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung", Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen, 1969, S. 123

37) ebenda, S. 125

38) Herben Schui, in "Geld ist genug da", Heilbronn, 1996, S. 122

39) Gespräch mit Osvaldo Martinez, Direktor des Forschungszentrum für Welminschaft in Havanna, Zeitschrift "Cuba Socialista, Nr. 10, Havanna, 199840) Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Bd. 20, S. 12

41) "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung def alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherhoit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vlor allen anderen aus." Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 465

42) Rolf Dahrendorf, nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1997