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120. Einleitung in eine Theorie der Selbstverwirklichung

Das hohe Ziel der Individualpsychologie ist die Beförderung einer aus dem Individuum zu schaffenden Wirklichkeit, die Verwirklichung seiner selbst durch die freie Entfaltung seiner Lebenskräfte. Das entspricht dem hohen Lied auf die "freie Entfaltung der Persönlichkeit", die durch das bürgerliche Recht garantiert sein soll, weil dies zugleich der wesentlichen Bedingung einer marktwirtschaftlichen Entfaltung der Gesellschaft entspricht. Aber diese Freiheit hat den Haken, dass die Notwendigkeit, welche wiederum deren Bedingung ist, aus solchem Streben schon herausgenommen und der "Macht des Faktischen" überantwortet wurde. Und die tritt dann erst im Nachhinein der "Freiheit" ein, obwohl sie ihr substanziell und notwendig vorausgesetzt und zugleich immanent ist.

Es geht hier darum, diese Ideologisierung der Selbstverwirklichung auf den Kern zu bringen, aus dem sie entsteht, und seine Formverwandlung darzustellen, die so wenig ideal ist, wie sie ihre Wirkung auf andere als Wirklichkeit gegen sich selbst erfahren muss. Es geht also darum, den Grund zu zeigen, warum sich das "freie Spiel der Lebenskräfte" so leicht in sein Gegenteil verkehrt. Es ist eigentlich schon geklärt: Es ist sich schon in seinerm Grund verkehrt, weil es seine Notwendigkeitschon in der Selbstwahrnehmung vollzieht und nur zutrifft, wo diese verselbständigt, also verselbständigte Notwendigkeit des Selbstwerts ist. Als Psyche mag sie ihre Freiheit wie in einer griechischen Sage vollführen. Als Streben des Selbstwerts kennt sie aber nur die Notwendigkeit der Selbstverwertung durch die Verneinung ihrer "Objekte".

Sigmund Freud begriff dieses Geltungsstreben als Lebenstrieb und so war es für ihn zu einem allgemeinen Streben nach "Objektbesetzungen" der "Libido" geworden, also danach, wodurch sich die Einverleibung eines fremden Lebens bewähren soll, indem es Lust durch deren Befriedungserlebnisse gewinnt (siehe Lustprinzip) und seinen Zweck in der individuellen Seele sener Psychoanalyse zu einer evolutionären Naturtatsache eines "Lebenstriebs" mystifiziert, durch den er die individuellen Formbestimmungen der Psyche in ihren zwischenmenschlichen Verhältnissen durch abstrakt allgemeine Gründe verallgemeinert und deren Beziehung auf andere Menschen zu einem individuellen System isolierter Persönlichkeit ihrer Selbstbehauptung (siehe "Ich") totalisiert. Von da her fand er auch etwas später in den Beobachtungen der Menschen während und nach dem ersten Weltkrieg in seiner Kulturtheorie als Grundlage eines "Unbehagens der Kultur" einen Todestrieb, durch den er die Folgen einer Kultur des politischen Kleinbürgertums als "innere Notwendigkeit" des Todes und des Tötens im Seelenleben der Individuen entdeckt haben wollte.

Die Psyche gilt von da her als ein seelisches Wesen der Menschen, welches ein Ganzes ihrer Individualität ausmacht. Für die Individualpsychologie gilt sie als voraussetzungsloser Antrieb ihrer Persönlichkeit, der die Besonderheit ihrer Natur darstellt. Sie lässt sich interpretieren als Grund von Absichten, die sich nicht aus wirklichen Verhältnissen durch deren gegenständliche Bezogenheiten erklären lassen, sondern aus einer eigenständigen unbewussten Gefühlswelt, die ihre Verwirklichung für sich selbst sucht, weil sie Gefühle nötig hat, um Selbstgefühle zu entwickeln und zu gestalten (siehe Selbstverwertung), auch wenn diese sich von den gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Empfindungen entziehen, die ihren wirklichen Sinn ausmachen. Die Psyche treibt Gefühle an, die sich nicht nur ihnen entziehen, sondern sich auch mächtig über deren Gegenwärtigkeit in der Wahrnehmung machen können (siehe Entgegenwärtigung).

Um diese Macht geht es in der analytischen Psychologie, die sie mit dem Unbewussten begriffen haben will. Dieses aber belegt doch nur eine Notwendigkeit der Abwendung der Gefühle von ihren Empfindungen, wie sie sich aus den Implikaten dieser Form von Sinnbildung erschließen lassen (z.B. durch Wunschbilder aus der Traumdeutung, aus Abwehrhaltungen oder Verdrängungen etc.). Die Psyche muss den Gefühlen also tatsächlich einen Sinn vermitteln, der sich nicht mehr aus den Empfindungen, sondern aus einer Art sinnlichem Gedächtnis herleitet. Von daher zehrt sie aus dem körperlichen Gedächtnis (bei Freud als "Erinnerungsbild eines Befriedigungserlebnisses"), worin Gefühle noch sinnvoll erscheinen, auch wenn sie keiner gegenwärtigen Empfindung mehr entsprechen können.

Psyche vermittelt in der Wahrnehmung also etwas, was sie nicht wirklich wahr hat und dennoch unbewusst, unwirklich wahrnimmt. Sie enthält von daher eine Erkenntnis der Unwirklichkeit ihrer Lebensverhältnisse, die ihren eigenen Sinn hat, bestärkct sich aber zugleich in dem Verwirklichungsstreben eines unwirklichen Sinns, eines Unsinns. Man kann sie daher als Kompromis der Wahrnehmung auffassen, von dem, was wahrgenommen wird, was aber nicht wahrgehabt werden kann und von daher eine Wahrheit enthält, die nicht wirklich wahr ist. Sie drückt einen Zwiespalt aus, der innerhalb der vorgegebenen Verhältnisse nur als Erkentnis ihrer Unwirklichkeit bewusst werden kann.

Unerkannt setzt sie sich durch wie eine eigenständige Kraft, wie ein Trieb, der die Verhaltensweisen in zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt und deren Glück oder Unglück wesentlich beeinflussen kann. Schon für Sigmund Freud war das Unbewusste der wesentliche Gegenstand der Psychologie und die Auflösung seiner Konflikte das allgemeine Ziel seiner Psychoanalyse. Indem er darin aber nur eine psychische Konfliktlösung in den betroffenen Individuen am Wirken sah, das ihrer individualisierten Natur bzw. natürlichen Prinzipien (z.B. Lustprinzip) geschuldet sei, verschloss er sich der Erkenntnis, dass darin überhaupt die Psyche als gesellschaftliche Form einer Abwesenheit von gesellschaftlichen Verbundenheiten zu begreifen ist. Denn gerade am Unbewussten wird erkennbar, dass es etwas gibt, was die Menschen wirklich nötig haben, was aber in ihrer Wirklichkeit nicht wahrnehmbar ist: Die Anwesenheit von Menschen, wo ihnen ihre gegenständliche Wirklichkeit entmenschlicht ist, wo sie sich zum Gegenstand ihrer Selbstwahrnehmung objektivieren müssen, um sich als Subjekt ihrer zwischenmenschlichen Verhältnisse im Prozess ihrer Selbstverwirklichung erscheinen zu können. Dessen Objektivierung kann daher nur die Vergegenständlichung von Selbstwert sein.

Nach der Entwicklung der Selbstbeziehung des Selbstwerts zum Selbstgefühl steht daher jetzt die Verwirklichung dieses Gefühls für sich selbst, die Selbstverwirklichung an, die durch die Psyche betrieben wird. War erstre Entwicklung noch rein körperlich zu verstehen und als Körperfetischismus entfaltet, so bekommen die Absichten des Seelenlebens eine eher geistig wirkende Kraft. Der Fetisch der Naturhaftigkeit, zu welchem der menschliche Körper geworden war, beschert zwar vielerlei Selbstgefühl, jedoch enthält dieses nur Erlebnisse, also keine wirkliche Geschichte und ist auch ohne jeden wirklichen gesellschaftlichen Sinn, obwohl er gesellschaftlich sehr sinnliche Wirkung hat, indem er die Sinne begeistert. Im Grunde ist ein solches Gefühl, in welchem sich menschliches Leben formuliert, menschlich leer und füllt sioch mit der Begeisterung an fremdem Sinn, den es sich einverleibt. In der Selbstverwirklichung verwirklicht sich ein Selbst, das nicht durch sich selbst wirklich sein kann. Ein solches Leben ist von daher in Wirklichkeit auch nur abstrakt.

Alles, was dem Körper zur zweiten Natur geworden ist, was ihn durch seine Naturhaftigkeit schmückt, erweist sich schnell als sinnlos, wenn es keine menschliche Beziehung bewirken, ihm also kein menschliches Wesen zukommen kann. Selbstgefühle verbleiben als Lebensmomente, die keinen Lebenszusammenhang kennen. Dieser Lebenszusammenhang kann nicht wirklich körperlicher Zusammenhang sein, kann sich also in den Selbstgefühlen auch nicht als solcher erweisen. Die Menschen wirken darin noch recht beschaulich, eben weil sie sich an der Ästhetik ihrer Selbstgefühle solange begeistern können, wie sie diese auch durch sich haben, an ihrer Äußerung und Bildung also wirklich beteiligt sind. Für sich ist das Körperliche, so naturhaft es auch erscheinen mag, völlig leer und ist von daher auch nur durch das begeistert, was der Körper hierbei erbringt, was die Reize des Erlebens ihm bedeuten.

Das Erleben ist als Moment der Wahrnehmung nur unmittelbar; es ist dem Sinn nach aber zugleich immer gesellschaftlich und gesellschaftlich erweist sich die körperliche Wahrnehmung daher auch als Mangel an Wahrnehmung, als Wahrnehmung von minderem Wert. So reizvoll sie in den einzelnen Momenten sein kann, so reizlos ist sie im nächsten Moment, wo ihre Anwesenheit schwindet. Tatsächlich ist ja nur die Anwesenheit von Erlebnissen das, was diese Gefühle vergegenwärtigt. Mit deren Abwesenheit sind sie leer. Der abstrakte Sinn kann nur wirklich und auf Dauer begeistert sein. wenn er sich verwirklichen kann, wenn er wirklich in Gesellschaft tritt und durch kulturelles Leben begeistert wird. Das körperliche Ereignis bliebe auf Dauer langeweilig, würde der Körper dabei nicht selbst zum Träger des Geistigen, der sich in der Abwesenheit seiner Sinne selbst mangelhaft wird, also ein Bedürfnis nach sinnlicher Erneuerung entwickelt. Man könnte sagen, dass der Körper den Geist erfährt, den er in der Selbstwahrnehmung aufgehoben hatte. Er war so begeistert für sich, dass er außer sich nichts ist und hat, was sich auf ihn beziehen lässt. Von daher erwirbt er in der Kultivierung seiner Selbstbeziehung, in der Kultur der Selbstgefühle einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der diesen Geist zum Inhalt seiner Selbsterlebnisse macht. Die Formverwandlung der Selbstwahrnehmung, die zunächst ganz in sich verfallen war, geht nun außer sich und wird das verwirklichen müssen, was einerseits die Beziehung zu sich nicht auflöst, aber andererseits diese doch nur in Gesellschaft, in der Kultur der Selbstgefühle findet.

Aber das Erleben wird hierdurch nicht wirklich gesellschaftlich. Es findet seinen Geist auch nur unmittelbar, also nicht als wirkliche Kultur, sondern in deren "Privatform" selbst, dem Körper. Es ist das Paradoxon der Verkehrung gesellschaftlich existenter Sinnlichkeit, dass sie sich nur dort begeistern kann, wo sie Körper hat und sich zugleich auf den Körper selbst immer wieder nur entgeistert beziehen kann.

Das erste Moment, worin die Wahrnehmung wirklich gesellschaftlich wird, ist daher auch in diesem Paradox begriffen: In der Selbstverwirklichung. Die Menschen finden darin zwar das, was sie begeistert, - aber eben auch nur durch sich selbst. Nur eine Bestimmung ist dabei neu: Sie haben nun andere Menschen wirklich nötig, um sich selbst zu verwirklichen. Das "Kind Mensch" tritt heraus aus seiner Selbstbefangenheit, um sich selbst durch andere Menschen und sich mit ihnen zu verwirklichen und sich an ihnen zu bestärken. Es erkennt, dass es sich nur am wirklichen Menschsein begeistern kann. Das mutet zunächst wie eine übernatürliche Gewalt an, wie eine Notwendigkeit, die man nicht begreifen kann, die dem Menschen sozusagen eingehaucht ist, seine Seele bestimmt.

Die Welt der Selbstgefühle bekommt daher eine Kraft, die wie ein Geist erscheint, die in der Form eines Geistes aufscheint, wie eine Mythologie des leeren körperlichen Seins. Es ist der Mythos von einer Sinnlichkeit, welche über das reine körperliche Sein auch wirklich hinausgeht, Wirkungen hat, die sich nicht aus der köperlichen Natur begründen lassen, sondern aus einem Prozess des geistigen Erlebens. Je naturhafter der Körper fixiert wird, desto entblößter erscheint seine Natur, desto leerer erweist sich so auch wirklich sein Sinn. Ein Fetisch funktioniert dadurch, dass er durch einen Sinn gemacht wird, der selbst nicht wirklich sinnlich ist: Eine Form, worin Körper sich begeistern und also geistig erscheinen, ohne wirklich geistig zu sein - eine Formation der Seele als Psyche.

Das macht es schwierig, diese Form zu begreifen, ist doch mit Seele ein höchst unbestimmter Ausdruck des Geistigen bezeichnet. Und wie überhaupt kann etwas Geistiges Form haben oder sogar formbestimmt werden? Der Geist als solcher formiert sich nicht und die Bedenken sind höchst berechtigt, die dem Wagnis begegnen, eine "Form des Geistes" von ihm und seinen Formulierungen zu unterscheiden. Besonders in seinem einzelnen Sein als Seele wäre es vermessen, ihn quasi zu "Formatisieren", ihm eine Funktion oder eine Existenz zu überziehen. Aber die Seele hat und macht Probleme, die als Form für sich, als psychisches Erleben für sich sind und für sich bleiben, die sich nicht mehr formulieren, die sich gegen den Menschen selbst wenden, ihn selbständig und unabhängig von seinem Erkenntnisvermögen als Zustände seiner Selbstgefühle (z.B. als Stimmung, Nervosität, Hörigkeit, Angst, Depression oder Wahnsinn) überkommen. Eine irgendwie geartete Form von psychischen Kräften gibt es, die sich darin verhalten. Wie diese sich verselbständigen können, ist für den Verstand eine harte Nuß. Aber diese Kräfte von der Seele zu unterscheiden und doch als ihre Form zu begreifen, ist notwendig, um ihre Wahrheit freizusetzen.

Das Seelische wird nicht ohne Grund gerne religiös verstanden. Das liegt wohl an der Ferne, welche das Geistige darin einnimmt und welche die Abstraktionen der Selbstgefühle ausmachen. Sie können nicht mehr wirklich begründet sein und zeigen doch auf die Menschen Wirkung. Ein Gott, der sie gibt und nimmt, bietet hiergegen eine Entlastung der unmöglichen Identität der Sinne, Identität im Geiste. So werden auch bis heute noch die religiösen Inhalte tragend bleiben, welche über die Jahrhunderte hinweg immer die Ausflucht aus dem irdischen Jammertal im Goldglanz einer vorgestellten Ewigkeit geboten haben. Darin mischt sich auch wirklich geistige Kreativität mit der seelischen Absicht, sich nur auf sich selbst zu beziehen - im Himmel wie auf Erden. Und von da her wird auch mit einigem Recht die religiöse Kunst als hohe Kunst begriffen. Allerdings wird dies leicht zu einem Kunstgriff mit dem Kunstbegriff, ist und bleibt diese Kunst doch in der Schwebe zwischen Mensch und Gott, gemeinhin sehr abstrakte Konkretion des Menschlichen. Und wen das begeistert, der muss sich von der Welt der Menschen entfernen, die darin ihren Verstand verlieren.

Offenbar ist die Seele in zwischenmenschliche Verhältnisse geraten, worin sie als Psyche eine eigene Wirklichkeit errichtet hat, in der sie sich nicht mehr finden kann, ihr geistiges Potenzial der Macht dieser Beziehungen unterworfen hat. In einer Welt, in welcher das zwischenmenschliche Erleben die Bildung des Selbstgefühls ausmacht und sich darin als Selbstwert forttreibt, dienen sich die Menschen gemeinhin in der Absicht, ihre Anwesenheit zu ihrer Selbstbestärkung wechselseitig zu nutzen und dieses Erleben so auszustatten, dass sich ihr Selbstgefühl bereichert. In solchem Selbstgefühl hat sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen diese Bereicherung als eine ungeheuerliche Abstraktion erwiesen, denn was sich Menschen darin geben und voneinander auch haben, hat in solchem Gefühl seine Wirklichkeit verloren und bestätigt im wesentlichen die Notwendigkeit, sich durch andere Menschen zu vergegenwärtigen, um überhaupt eigenen Gegenwärtigkeit zu haben und sich darin zu verspüren. Die Arbeit, die sie aus Liebe erbringen, der Aufwand und die Mühe ihrer Entwicklung und Verständigigung in ihren Auseinandersetzungen, ihrem Leiden und Tun, ihr Verstand und das Bewusstsein, das sie durch die Erkenntnisse in ihren Beziehungen gebildet haben, ihre ganze menschliche Bildung, die in dieser Kultur nur zwischenmenschlich möglich ist, wird von der blanken Selbstgefühligkeit aufgehoben, die sich in dieser Isolation bestärkt und zu einem eigenständigen Gedächtnis wird. Darin geht es nicht mehr um die Entwicklung von Erkenntnisvermögen aus zwischenmenschlichen Wahrnehmungen, sondern um die Einverleibung menschlicher Gegenwärtigkeit, indem hierdurch das bewirkt wird, was die Wahrnehmung wahrhaben muss, um ihre Identität zu bewahren, wo sie nicht erkennen kann. Die Psyche wird zu einem System psychischer Absichten, die sich wie Triebe verhalten, durch welche die Menschen naturhaft gesteuert erscheinen.

Um dieses zu erklären, muss das Geistige in seiner gesellschaftlichen Form begriffen sein, also darin erkannt werden, wie es sich als eigene Gefühlswelt selbständig macht, wie aus den Verhältnissen der Gefühle und Selbstgefühle die Seele in der Form einer selbständigen Selbstbezogenheit, als Selbst, überhaupt wirksam werden kann.

Es ist in der Psychologie noch nicht einmal als Frage aufgekommen, wie die Seele diese Form annehmen kann. Sie hantiert damit, als sei sie durch ihr "menschliches Bemühen" schon hinreichend ausgewiesen oder als sei es lediglich ein Phänomen der Denaturierung, wenn die Psyche "nicht mehr richtig tickt". Dieses so begründete Bemühen um die Seele hat schon viel Unheil angerichtet, weil es immer nur als Konzept einer Anwendbarkeit zur Beherrschung der Psyche zugunsten einer fiktiven "Einheit des Menschlichen" auftritt und auch gar nichts anderes sein kann. Es muss nun also hier geklärt werden, wie und warum die Psyche überhaupt zu einer Form der selbständigen Selbstbeziehung wird und welche Substanz sie darin vorantreibt. Wir wollen sozusagen die Formalisierung der Seele zu einem Konstrukt, das sich als Selbst verwirklicht, erkunden. Dazu sind noch einige Wortklärungen zu diesen Begriffen nötig.

Der Begriff Seele ist höchst vieldeutig und grundlegend für die philosophische Diskussion seit ihrem Bestehen. Das sogenannte "Leib-Seele-Problem" war immer auch das "Körper-Geist-Problem" und die Einstellungen hierzu hatten letzlich die Positionen der Geistesgeschichte bestimmt, bis sie schließlich in der Aufklärung zu einem Natur-Geist-Antagonismus aufgelöst wurden, in welchem die Seele lediglich als ein Postulat einer Vorstellungswelt verblieb. Dies aber war keine wahre Lösung, denn der bloße Antagonismus von Natur und Geist führte gradlinig in das offene Fiasko der Philosophie, sich als praktisches Prinzip einer Ethik zum herrschenden Geist über die Natur zu bestimmen, dem Prinzip der Modernen und dem technologischen Fortschrittsglauben. Aufklärerische Theorien wurden so zu sublimen Herrschaftstheorien, in welchen sich die Macht des Allgemeinen als Notwendigkeit einer praktischen Vernunft begründen konnte. Inzwischen wird versucht, dieses Fiasko in ein anderes umzukehren, in welchem die Natur als Genetik des Denkens und Wollens zur Wesensbestimmung des Geistes gemacht wird (vergl. die "Kritik der Bremer Hirnforschung" von Freerk Huisken). Das ist aber auch nichts wesentlich anderes und das gab es schon zur Genüge in den Rassentheorien der konservativen Kulturtheorien.

Gemessen an der bisherigen Philosophie war in der Aufklärung die Befassung mit Seele ein gewaltiger Rückschritt. Bis dahin war Seele entweder die selbständige Geistesform eines außersinnlichen Wesens des reinen Denkens begriffen (z.B. Platons Vernunftsseele, das logistikon, das herabsteigt bis zu den "Niederungen" des Affektiven und Triebhaften). Oder sie war diesseitig verstanden als eine höhere Ausdrucksform der Sinne (Aristoteles), als ein Aufsteigen des Sinnlichen zu einer Art Körpersprache des Geistes. Aristoteles verstand unter Seele eine Form des Körperlichen, den Ort des Fühlens,- ein im Grunde sehr fortschrittlicher Gedanke: Seele als noch nicht wirklich aktives, also passives Denken im rein Sinnlichen, das jedem wirklichen Gedanken vorausgesetzt ist. "Nichts existiert im Denken, was nicht schon vorher in den Sinnen existiert hätte" (Aristoteles).

Descartes dagegen dachte in strikter Trennung von Geistigem und Körperlichem und begriff die Seele als dessen Versöhnung, die Verschmelzung des Gegensatzes von Körper und Geist, determiniert durch das vorausgesetzt Getrennte.

Baruch Spinoza sah in ihr dagegen wesentliche Identität, die Idee des Individuums, dass es "mit seiner Natur zufrieden", darin also als göttliche Natur Gott gleich, und zugleich als menschliche Natur göttlich ist. Die Seele war demnach göttlich-natürliche Einheit des Individuums.

Bei Hegel ist die Seele das Moment des einzelnen Geistes, der sich "als Wahrheit der Natur" zur Grundlage "des freien Urteils" geworden ist (Enzyklopädie § 388 ff), körperliche Äußerung einer "höheren Natur" (§ 411).

Bis dahin gab es zumindest eine eindeutige Beziehung des Seelischen zur Natur, die nicht antagonistisch, wenn auch idealistisch gedacht wurde. Dagegen wurde mit der Aufklärung der Antagonismus des Seelischen zur Grundlage einer materiellen Konstruktion, zu einem "seelischen Apparat", der quasi naturdeterminiert und zugleich kulturell kontrolliert abläuft und dem damit implizit jede eigene Geisteskraft abgesprochen war - ganz besonders deutlich ausgeführt in der Freud'schen Psychoanalyse als Ontologie einer Wesensspaltung des modernen Menschen zwischen Lust und Realität. Diese Theorie konstatiert Realität schlechthin als natürliche Schranke der Lust und macht sie wesentlich kulturnotwendig, unkritikabel, das gespaltene Subjekt zum ontisch-mythischen Substrat, das seine kulturelle Anpassung als idividuelles "Triebschicksal" nötig hätte.

In diesem Text soll nun das Dilemma des Begriffs darin aufgelöst werden, dass Seele als Form der Erkenntnis begriffen wird, die zugleich ihrem Inhalt widerspricht, also als anachronistische Erkenntnis abstrakt menschlicher Sinne in der Form ihrer individuellen Existenz fixiert ist. Seele enthält menschliche Erkenntnis ebenso, wie sie ihr zugleich als Form für sich, als Privatform eines von seinen wirklichen Beziehungen abstrahierenden Geistes widerspricht. Deshalb kann weder auf den Begriff der Seele verzichtet, noch ihm selbst wirklicher geistiger Gehalt zugesprochen werden.

Von daher muss der Widerspruch des Seelischen erst mal theoretisch gefasst werden, um ein praktisches Verhalten hierzu möglich zu machen, um menschliche Wirklichkeit auch im Geistigen als wirkliche Kultur der Menschen zu ent-decken und ihren gesellschaftlichen Zusammenhang zu eröffnen. Nötig ist auch hier, das interpretative Verhalten der Philosophie und die ideologischen Spekulationen der Psychologie in eine Analyse des praktischen seelischen Verhältnisses der Menschen zu wenden, - und das heißt hier im Besonderen: sowohl Hegel als auch Freud auf die Füße ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu stellen. Wir werden dabei nicht umhin kommen, die Seelenwelt Schritt für Schritt zu konkretisieren, um auch das zu zeigen, was sie dem Begriff nach für sich selbst will, worum sie sich selbst dreht, sobald sie ihren lebendigen Geist verliert.

Der Begriff Seele ist durch seine Verwendung so vielschichtig geworden, dass er nur schwer zu klären ist und neuerdings auch oft durch einen Begriff aus dem Asiatischen, mit "Karma", ersetzt wird. Dieser Begriff stellt das Geisteswesen der Seele heraus, das erst im Nachhinein durch die Verselbständigung menschlicher Beziehungen in zwischenmenschliche Beziehungen zu einer Psyche wurde. In der herrschenden Psychologie ist diese Entwicklung völlig untergegangen, wo mit dem griechischen Begriff, nämlich "Psyche", so hantiert wird, als wäre er lediglich ein Synonym. Durch diese Gleichsetzung wurde Psychologie zum Anwalt einer Selbstbezogenheit, welcher übernatürliche Notwendigkeit zugesprochen wurde. So hat spätestens seit Sigmund Freud dieser Begriff den Charakter einer funktionellen Organisationseinheit bekommen, die so natürlich wie übernatürlich zugleich sein sollte. Dies Begrifflichkeit hat die Seele zur Sache einer ontischen Theorie, zu einer Ontologie gemacht und sie wie einen Gegenstand der Naturwissenschaften behandelt, die durch allerei Windigkeiten erst "kulturfähig" gemacht werden müsse, um dem "Stand der Geschichte" zu genügen.

Das deutsche Wort Seele kommt aus dem Germanischen, aus einem urspünglichen Begriff für See. Der galt als Hort der Ahnenwelt und Geisterwelt, die in der finsteren Sumpf- und Seelandschaft hausen sollte. Nach germanischem Glauben entspringt dort das Leben und kehrt auch dorthin zurück. Es ist der Begriff für die, die vom See kommen, die Geister, die die Menschen ergreifen und bewegen, weil sie an deren Ursprung in der Ungewissheit erinnern, sich in deren Gedächtnis als Anmutung des Unendlichen eingraben. Die Seele ist das Gedenken des geistigen Ursprungs des Lebendigen, ein unspezifisches Gedächtnis, ein See der Gefühle, ein angemutetes Leben, wie es sich erleben lässt. Aber als solches ist die eingedachte Ursprünglichkeit nicht wirklicher Ursprung, sondern Resultat des Lebens, Geist, der sich als Grund absetzt, zum Satz des Erlebens wird, das in der Seele sein Wesen, den wesentlichen Sinn des Gewordenen eingedenkt. Seele ist die Form einer Reflexion, welche das Lebendige nötig hat, um seine Begeisterung zu artikulieren. Nach christlichem Glauben macht sie daher auch das Religiöse im Menschen aus, das, was Gott durch seinen Odem dem Menschen eigehaucht hat, das Pneuma des Geistes.

In einer abstrakten Lebenswelt haben die Menschen ihr Leben nur in einer Form, worin sie von sich selbst absehen müssen. Das hierdurch unwirklich gesetzte Leben hat ein Leben außer sich nöig, um zu sich zu kommen. Dieses Außersich-Sein kann nur übersinnlich sein, weil es keinen wirklichen Sinn hat. Es ist Gott, der allem Leben seinen Geist einhaucht. Andererseits lebt der Mensch mit durch ein unverwirklichtes Leben, durch eine Lebensschuld, an die auch Gott erinnert. Für ihn ist es die Erbsünde, wenn er ihm sich nicht als sein Geschöpf offenbart. Indem die Menschen sich als Gottes Geschöpfe ansehen, erwerben sie ein Leben, das sie selbst als Leben von fremdem Grund leben müssen.

Für sich selbst ist Seele eine reine Mythologie ohne wirkliche Substanz. Das Seelische ist ein Widerschein des Lebens, der sich in den einzelnen Menschen niederschlägt und im Verhältnis der Menschen zur Psyche wird. Was in der Seele vom Leben anmutet, das erscheint dann daher als eigenes Wesen, als Anmut eines Menschen, als dessen Mut und Gemüt. Darin erscheint menschliches Empfinden und Gefühl als individuelle Inkarnation eines Wesens, als Welt eines Selbstgefühls, das sich aus der Welt versachlichter Wirklichkeiten heraussetzt und nun zumindest in der individuellen Gestalt eines Menschen menschlichen Geist in einer wahrnehmbaren Form, als körperlichen Lebensausdruck eines Selbstgefühls zeigt. Was sich in den Lebenszusammenhängen der Menschen an Leben ergibt, mutet sich daher nun als Individualität eines Geistes an, der als Wesen eines menschlichen Individuums, als dessen wesentliche Identität erscheint.

Soweit Seele lediglich als ein Wort für etwas Geistiges in den einzelnen Menschen angesehen wird, gibt es keinen Grund, dieses zu einem Begriff zu machen, womit ja immer etwas Abstraktes verbunden wird. Aber Seele ist ein Begriff der Philosophie, Religion, Theologie, Kunst und nicht zuletzt der Psychologie, durch welchen die verschiedensten Zusammenhänge herbeigeholt werden, die mit Geist und Erkenntnis meist wenig zu tun haben. Dies liegt daran, dass Seele als etwas Hintergründiges, schwer Erklärliches verstanden wird, dessen Herkunft eher aus einem anderen Sein als dem diesigen erklärlich ist. In der Tat erscheint dies in geistlosen Zuständen auch wirklich so zu sein. Doch gerade das macht die Notwendigkeit aus, sich diese Zustände vorzunehmen, und das verlangt auch, den Begriff Seele darin zu durcharbeiten, ist er eben doch im Grunde auch ein etwas geistloser Begriff für geistige Zusammenhänge, gerne benutzt, um abgeschmackten Beziehungen höhere Werte zu verleihen oder in Krisenzeiten den Menschen einen besonders verfremdeten Sinn und Zweck als Füllsel ihrer Identitätslosigkeit anzudienen.

Die erste selbständige Form des Selbstgefühls ist die Psyche als Gedächtnis seiner Begeisterung, als private Form eines Geistes, welcher darin in der Gestalt ist, welche die Dichte seines Erlebens hinterlassen hat. Was das Ereignis, dessen Erleben so bewahrt ist, wirklich und öffentlich war, ist hierbei gleichgültig geworden. Die Psyche sieht ausdrücklich von aller wirklichen Gestalt ab und bewahrt letztlich alleine die Bedeutung dessen, was die Wahrnehmung der Form nach ausgemacht hat. Da sie dies als Sinn ihrer Absicht hat, kann sie auf deren Verwirklichung auch nur hoffen, an sie glauben und hiernach streben.

Für die großen Weltreligionen stellt die Seele Gott im Einzelwesen Mensch dar. Sie sehen damit die private Geistesform als allgemeinen Geist Gottes an und die Privatperson als den Menschen schlechthin, den Menschen nicht als Resultat seiner Geschichte, sondern als Ausdruck göttlicher Beseelung. Damit ist die Psyche selbst Grundlage aller Religiosität, die Wiedererkennung Gottes in sich. Als solche wird sie auch von der idealistischen Philosophie begriffen. Es kommt aber darauf an, die Seele auf ihre wirklichen Füße zu stellen und das heißt, ihre Herkunft zu erkennen und vom "Baume der Erkenntnis" zu naschen.

Weiter mit Buch I: 121. Die allgemeine Selbstbeziehung