Wilhelm Reich war ein Psychoanalytiker wie Sigmund Freud. Von daher teilte er auch dessen Auffassung von der Geschlechtlichkeit als wesentliche Grundlage allen psychischen Geschehens (siehe hierzu auch Trieb). Allerdings befand er im Unterschied zu Freud zugleich die sexuelle Freiheit als Grund und Ziel von menschlicher Emanzipation. Während er die Kleinfamilie als Herrschaftsform des Bürgertums (siehe b�rgerliches Subjekt) ansah, hielt Freud diese für kulturnotwendig als Lehrstätte einer sexuellen Selbstdisziplinierung, die sich darin zwangsläufig in einem libidinösen Beziehungskonflikt ausbilde, sich in einem Verhältnis entwickle, wie es die Ödipussage (bzw. Elektrasage) beschreibt: In der libidinösen Beziehung zwischen Vater, Mutter und Kind sei der Vatermord (bzw. Muttermord) zwangsläufig, durch den der Sohn bzw. die Tochter einerseits an die Stelle des gegengeschlechtlichen Elternteils tritt, also erwachsen wird, zugleich aber in der Schuld hierüber einem Inzestverbot gegen das eigene Geschlecht unterworfen wird. Hieraus ergebe sich die „psychische Struktur“ des erwachsenen Menschen, ein selbstkontrolliertes Triebleben als funktionelle Aufteilung von „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“. Und dies mache ihn „kulturfähig“ und die Kultur zu einer höheren Lebensart, worin die Triebe (z.B. in Kunst und Produktion) sublimiert seien (siehe Psychoanalyse). Hiergegen belegte Reich in seinem Buch zum „Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ durch Studien an sogenannten Naturvölkern, besonders den Trobriandern, dass eine „mutterrechtliche Gesellschaft“ keine Familienstruktur und deren Komplexbildungen benötige und wollte daran beweisen, dass in einer von Schuld und Inzestverbot befreiten Gesellschaft die Beziehungen der Menschen ohne Selbstunterdrückung und Selbstentfremdung möglich seien. Diese Rückbeziehung auf eine vermeintliche Ursprünglichkeit menschlicher Beziehungen in eine rein natürliche Gesellschaftsform der Zwischenmenschlichkeit wurde für den „heimlichen Anarchisten“ Reich (in seinem Tagebuch verehrte er Max Stirner) zum fundamentalen Argument gegen den Aufklärer Freud und gegen die bürgerliche Gesellschaft im Allgemeinen. Während Freud in der Kultur die Vernunft der Menschen gegen ihre unmittelbaren Triebinteressen, gegen die chaotischen Bedürfnisse der Libido wirken sehen wollte, sah Reich menschliche Gesellschaft unmittelbar aus der Natur der Menschen begründet, aus einem reinen Lustprinzip, der Vernunft ihres natürlichen Lebensinteresses, wie er Freuds Libido verstand. Die sich aus ihrer Energieform, aus der Naturkraft ihrer Lebensform ergebenden Kreationen seien die eigentliche Lebensgestaltung einer menschlichen Kultur, so sie nicht gehemmt werden. Ihm geriet damit das Naturwesen der Menschen zum Wesensbegriff einer Naturgesetzlichkeit, die sich im konkreten Leben selbst mitteilt und somit überhistorische Wahrheit gegen das historisch bestimmte Treiben der Menschen beansprucht. Leben wurde bei Reich damit zu einer ontologischen Bestimmung für menschliche Emanzipation gegen die herrschende Kultur schlechthin. Und Reich fand dies zugleich im dialektischen Materialismus bestätigt, weil auch dort von einer „Menschwerdung der Natur“ die Rede ist. Dieses Wesen war für ihn das materielle Substrat seiner Triebtheorie, die ihm mit den Grundlagen sowohl von Freud als auch von Marx vereinbar schien. Dies allerdings war ein doppelter Fehler: Erstens ist Gesellschaft nach Marx eine Naturmacht und also nicht unmittelbar natürlich, sondern durch die Entwicklung des Produktivvermögens der Menschen bestimmt. Und zweitens wäre Natur als bloß sexuelles Triebwesen nicht Stoff menschlicher Produktivität, sondern lediglich die körperliche Erscheinung einer Energieform, ein Nominalismus der Leibhaftigkeit, der zu allem herzunehmen ist, was Körper hat, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Als bloßes Körperwesen wäre Natur eine unmittelbar konkrete Allgemeinheit, deren Vermittlung nicht mehr reflektiert werden muss, Gesellschaft also nicht aus dem Zusammenwirken der Menschen zu verstehen ist, das sich in den Individuen als Ensemble ihres Verhältnisses reflektiert, sondern ein unmittelbar individuelles Wesen habe. Von daher neigt solche Theorie eher zu einer radikalen Selbstbezogenheit (siehe hierzu auch K�rperfetischismus), die sich gesellschaftstheoretisch verbrämt, als dass sie auf eine wirklich gesellschaftliche Emanzipation, auf die Emanzipation der Menschen in einer menschlichen Gesellschaft abzielen könnte, deren Unterdrückung im Wesentlichen durch die patriachale Kleinfamilie betrieben würde. In den Isolationszellen der bürgerliche Gesellschaft, in den Kleinfamilien, bestehe von Haus aus eine masochistische Grundstimmung, ein emotionales Schuldverhältnis, welches freies Selbsterleben blockiert. Wirkliches Selbsterleben sah Reich in einer vollständigen orgastischen Erfüllung. Das unter den patriarchalischen Bedingungen der Kleinfamilien gebildete Selbstgefühl würde diese Erfüllung verunmöglichen und ihre Energie zur Selbstbeherrschung verbrauchen, sich damit gegen die eigenen Lebensbedürfnisse panzern. Derart gepanzerte Menschen könnten ihre Lebensbedürfnisse nur in einer mehr oder weniger unbewussten Lebensverachtung befriedigen. Den Charakter, der sich hieraus ergibt, nannte Reich den autoritären Charakter. Das ist ein Charakter, der in der Selbstkontrolle eine Befriedigung empfindet, sich hieraus konstituiert und in seiner Borniertheit fortbestimmt. Die Folge hiervon sei Autoritätshörigkeit (siehe hierzu auch tote Wahrnehmung). Die Überantwortung der eigenen Belange an den Staat als die Formation einer Massenführerschaft sei Ausdruck der masochistischen Bedürfnisse autoritätshöriger Charaktere. Sie verlangen nach Unterwerfung an eine Macht der Selbstentfremdung zum Zweck einer allgemeinen Selbstüberhöhung, die sich gegen das konkrete Leben der Menschen überhaupt richtet. Reich wollte die Gefährlichkeit dieses psychischen Phänomens herausstellen, wenn es zu einem Massenphänomen wird und politisch von entsprechenden Populisten genutzt wird. Er nannte es die "emotionale Pest", einen Hass auf alles Lebendige, der sich aus den Selbsterhaltungsfunktionen von in sich gepanzerten Charakteren ergebe und perpetuiere. Als Opfer und gleichzeitig auch Bewahrer der emotionalen Pest trachte der emotional gepanzerte Mensch danach, jede Regung des sich frei äußernden Lebens zu bekämpfen. Er könne seine Lebensverneinung in Massenbewegungen entladen, indem er sich Führerpersönlichkeiten unterwirft und der von diesen beherrschten Schmerzensgemeinschaft dient. Von daher benötige er die angeführte Menschenmasse zur Selbstbeherrschung. Die "emotionale Pest" sei ein gesellschaftlich begründetes und daher auch gesellschaftlich zu behandelndes Phänomen eines Ausbeutungsverhältnisses, das sich als "sexuelle Zwangsmoral" den Menschen mitteilen würde und die massenhafte Verfestigung der charakterlichen Panzerstrukturen fortbestimme. Um diese Pest zu bekämpfen, wollte Reich Erkenntnisse der Psychoanalyse und des Marxismus zusammenführen. Aber hierfür war es nötig, die bürgerlichen Inhalte der Psychoanalyse zu überwinden und sich auf ihren materiellen Kern zu konzentrieren. Diese Inhalte bestanden nach Auffassung Wilhelm Reichs in der Todestriebtheorie von Sigmund Freud (1920), der er mit umfangreichen Material aus der vergleichenden Kulturforschung ("Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes" und in "Einbruch der sexuellen Zwangsmoral") entgegentrat und in dessen Kulturauffassung überhaupt. Freud verstand Kultur bildungsbürgerlich als zivilisatorische Leistung und gesellschaftsnotwendige Macht gegen menschliche Triebhaftigkeit. Mit der darin begründeten kulturellen Notwendigkeit der Selbstbeherrschung, die nach Freud durch einen Ödipuskomplex gewährleistet werde, sah Reich sexuelle Unterdrückung, Partriarchat und Kapitalherrschaft in einer Kulturgewalt der Kleinfamilie vereint und affirmiert. Reich war durch seine Überlegungen in einem Wissensbereich der Naturwissenschaften angelangt, der seinem Positivismus zwar durchaus entsprach, dem er aber erkenntnistheoretisch nicht gewachsen war. Das von dem Mediziner Friedrich Kraus entwickelte Konzept der „vegetativen Strömung“ wurde für ihn zur Grundlage des psychischen Geschehens schlechthin und zur Grundlage seiner „Vegetotherapie“. Indem er psychologische Wesensbegrifflichkeiten mit solcher naturwissenschaftlichen Substanz auffüllte, war ihm analytisches Denken abhanden gekommen und eine naturwissenschaftliche Phänomenologie entstanden, worin seine Naturabstraktion unmittelbar konkret psychologisch begriffen waren. Seine Theorie geriet hierdurch zu einer platten Esoterik, für die er schließlich auch ein wirklich allgemeines Naturwesen der individuellen Triebkräfte, ihre Energieform fand: Das Orgon, das er als Substanz der „Biogenitalität des Menschen“ erkannt haben wollte und das mit seinem Orgonometer zu messen und seinem Orgon-Akkumulator therapeutisch anwendbar gemacht wurde massenhaft und bei jeder beliebigen Individualität. Seine diesbezüglichen Naturforschungen, die eine neue Art der Energie entdeckt haben wollten, wurden im Jahre 1941 sogar von Albert Einstein untersucht, der Reich dann die Resultate seiner Prüfung übersandte und ihm riet: „Ich hoffe, dass dies ihre Skepsis entwickeln wird, dass sie sich nicht durch eine an sich verständliche Illusion trügen lassen.“ Weil seine Beobachtungen zu sexuellen Verspannungen individualpsychologisch dennoch eine augenscheinliche Bestätigung finden konnten, bewegten seine sexualtherapeutischen Denkansätze viele Ärzte, Psychologen, Pädagogen und andere professionelle Akteure zu dem, was Reich mit seiner Vegetotherapie begründet hatte: eine Körpertherapie, die auf Spannungskonflikte und Konfliktlösung in der vegetativen Muskelspannung selbst abzielte und die auch heute noch in diversen Körpertherapien fortentwickelt wird. Mit dem politischen Verständnis seines ursprünglichen Engagements hat dies allerdings nichts mehr gemein im Gegenteil: Aus seinem gesellschaftspolitischen Verständnis, welches die Unmöglichkeit einer individualtherapeutischen Auflösung gesellschaftlicher Zwanghaftigkeiten beschworen hatte, war eine vollkommen individualistische Therapie für einen allgemein Bedarf geworden, die jenseits gesellschaftlicher Wirklichkeit im jeweils einzelnen Körper der Klienten zur ausschließlichen Entfaltung kommen sollte (siehe hierzu auch b�rgerliche Wissenschaft). Obwohl Reichs theoretische Entwicklung hierdurch in einem Fiasko endete, muss seinem politischen und menschlichen Engagement eine vielfältige Wirkung zuerkannt werden. Die detaillierte Beobachtung repressiver Sozialisation und ihrer notwendigen Beziehungsform als Kleinfamilie hatte zur Sprache bringen können, was in den Privatnischen und Zellen der bürgerlichen Gesellschaft geborgen und verborgen wurde (siehe hierzu zwischenmenschliche Verh�ltnisse). Immerhin hatte auch seine Freudkritik Probleme der Psychoanalyse angerührt, die sie als Anpassungspraxis einer repressiven Gesellschaftsstruktur herauszustellen verstand. Politisch wurden seine Beschreibungen dort genutzt, wo Selbstunterdrückung kultiviert war und sich in autoritären Charakterstrukturen niederschlug. In den 30ger Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie für die Arbeiterjugend äußerst hilfreich und ermöglichten Verbesserungen ihrer Kultureinrichtungen. Seine „Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (ZPPS)“ eröffnete die erste Sexpol-Bewegung schon während der Nazizeit. In der Studentenbewegung hatten dieselben Beschreibungen zur Anerkenntnis eines „subjektiven Faktors“ in der Politisierung geführt, der in Bezug zu den objektiven Verhältnissen begriffen werden konnte. Und schließlich hat die Frauenbewegung durch seine Freudkritik und seine Ausführungen zu mutterrechtlichen Gesellschaftsformen und den Verhältnissen in der patriarchalischen Kleinfamilie viel Material bekommen. | ![]() |