Wolfram Pfreundschuh (05.12.07)

 

Einleitung in die Kritik der politischen Kultur

Das gesellschaftliche Leben der Menschen ist in den reichen Ländern in einen eigenartigen Widerspruch geraten: Es besteht aus einer ungeheueren Vielfalt von Ereignissen und Gütern, die geradezu explosionsartig expandieren, während in der Entwicklung gesellschaftlicher Wirklichkeit im Grunde alles gleich bleibt, einer schier endlosen ahistorischen Gleichförmigkeit folgt. Die Möglichkeiten des Konsums erscheinen zwar unerschöpflich, die wirklichen Lebensverhältnisse aber bestehen zunehmend aus einer Ödnis von Notwendigkeiten, die den einzenen Menschen in ihrem Sinn und Zweck kaum betreffen. Ihre Arbeit besteht immer mehr aus Diensten am bloßen Strukturerhalt, ihre Existenz aus bloßer Subsistenz, der Sorge um die Selbsterhaltung, die nur durch Geld möglich erscheint, dem allgemeinen Mittel, um überleben zu können. Im Geld konzentriert sich alles, was Lebensglück bedeuten, und auch alles, was Selbstverlust sein kann. Nicht das Verhältnis von Produktion und Konsumtion von Waren auf den Märkten macht gesellschaftliche Wirklichkeit hier und heute wesentlich aus, sondern der Gelderwerb als solcher, der Gewinn an monetärer Macht. "Arbeit lohnt sich nicht" ist zum geflügelten Wort geworden, das besagt, dass der davon Abhängige keine Chance hat, etwas anderes zu werden, als er ist. Die Vielfalt der Produkte selbst befördert nicht mehr die Reichhaltigkeit menschlicher Verhältnisse und Beziehungen, sondern reduziert sich auf redundante Angebote aus einer Produktenpalette größtmöglicher Beliebigkeit. Deren Gebrauchswerte müssen nicht unbedingt für wirkliche Bedürfnisse taugen, die gesellschaftliche Beziehungen und Entwicklungen in sich tragen und befördern. Es genügt, wenn sie überhaupt zur Reproduktion, Kommunikation und Unterhaltung isolierter Individuen taugen. Das Handy zur beliebigen Kontaktaufnahme, der Fernseher zur Abfüllung von Leerzeiten und der Knopf im Ohr verhilft ihnen zu irgendwelchen Regungen und Erregungen im Leben von abgeschotteten Welten, die für einander in Wirklichkeit gleichgültig sind. Es gibt große Entwicklungen, technische Revolutionen, die durchaus in der Lage wären, die Beziehungen der Menschen zu vertiefen, das Bedürfnis des Menschen nach dem Menschen zu verweltlichen und die Mühen und Beschwerlichkeiten des Alltagslebens deutlich zu mindern. Doch was die Entwicklung der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, damit den Bedarf an gesellschatlicher Entwicklung, Fortschritt des wirklichen Lebensstandards der Menschen entfalten könnte, wird auf eine Form reduziert, die dem entgegensteht. Die gesellschaftliche Funktion neuer Technologien tendiert immer mehr dazu, sich als Befriedungstechnologie gegen Sinnentleerung, als Überlebenstechnologie der Gleichgültigkeit selbst anzubieten. Nicht die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen ist ihr wesentlicher Zweck, sondern deren Beherrschung: Die Befriedung ihrer Unendlichkeit, der Erregung ungestillter Regungen. Die tragenden Lebensereignisse der Menschen entstehen nicht mehr durch geschichtliche Tätigkeit und Sinnbildung, durch ihre wirklichen, nicht bloß funktionale Beziehungen, nicht durch gegenständliche Arbeit oder aus dem gesellschaftlich wirksamen Vermögen der Menschen selbst. Sie ereignen sich eher wie Zufälle, die unmittelbar wie bloße Begebenheiten wahrgenommen werden, die dem zufallen, der eben mal Glück und Erfolg hat oder auch nicht. 

So erscheinen sich auch die Menschen selbst in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen ereignishaft, wie zufällige Begebenheiten, die sich treffen und für ihr Leben dadurch bedeutend werden, dass sich in ihren Beziehungen reizvolle Ereignisse entwickeln, Reize, welche die Einöde unendlicher Gegebenheiten und Gewohnheiten durch besonderes Erleben auflösen. Das einzelne Geschehen wird in seiner Einzelheit so bedeutungsvoll, als wäre seine Unbestimmtheit eine Dimension des Übermenschlichen, als stünde es in keiner Geschichte, keinem Zusammenhang, keiner sinnvollen Beziehung. Geschichte selbst wird durch Momente ersetzt, zum Fragment eines Ganzen, das es nirgendwo wirklich gibt. Dies zeigt sich auch in den Individualgeschichten, in denen unrealisierbare Bedürfnisse aufblühen und verwelken, deren Sinn sich in einem universellen Verlangen auflöst, das kein Anfang und kein Ende kennt, weil er selbst ohne Grund, also bodenlos ist. Solche Fragmentierung vollzieht sich in Flüchtigkeiten, weil sie eine Flucht vor Bindungen jedweder Art nötig haben, denn ohne Sinn kann nichts wirklich sein. Solche Beziehungen scheinen zu einer allgemeinen Lebensform geworden zu sein, notwendige Lebensbedingung für Menschen, welche keine andere gesellschaftliche Wirklichkeit mehr haben, als die der Zwischenmenschlichkeit, dem zwischen allem Menschlichen sein. Die Suche nach Glück und der Verlust an eigener Wirklichkeit gehen Hand in Hand.

"In seinem viel beachteten Buch Der flexible Mensch liefert Richard Sentlett (1998) eine wenig positiv gestimmte Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt (Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus) Der "Neue Kapitalismus" überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist die Erfahrung einer "Drift" getreten: Von einer "langfristigen Ordnung" zu einem "neuen Regime kurzfristiger Zeit" (S. 26). Und die Frage stellt sich in diesem Zusammenhang, wie dann überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen. Die fortschreitende Deregulierung: Anstelle fester institutioneller Muster treten netzwerkartige Strukturen. Der flexible Kapitalismus baut Strukturen ab, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. "Netzwerkartige Strukturen sind weniger schwerfällig." An Bedeutung gewinnt die "Stärke schwacher Bindungen", womit zum einen gemeint ist, "dass flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen, und zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie Loyalität ihre Bedeutung verloren hätten" (S. 28). Die permanent geforderte Flexibilität entzieht "festen Charaktereigenschaften" den Boden und erfordert von den Subjekten die Bereitschaft zum "Vermeiden langfristiger Bindungen" und zur "Hinnahme von Fragmentierung". Diesem Prozess geht nach Sennett immer mehr ein begreifbarer Zusammenhang verloren. Die Subjekte erfahren das als Deutungsverlust: jm flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden" (S. 81). So, entsteht der Menschentyp des flexiblen Menschen: ein "nachgiebiges Ich, eine Collage von Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen.“ (Heiner Keupp in "Niemand kann seinem Schicksal entgehen .." (Alibri-Verlag 2004, S.32 f)

Doch so bedingungslos, wie den Menschen solche Beziehungen jenseits wirklich erkennbarer gesellschaftlicher Bedingtheit erscheinen, so unbedingt sind sie auch. Es muss etwas geschehen, wo Sinnentleerung wahrgenommen wird. Zum Ereignis ist man gezwungen, zur Selbstdarstellung genötigt. Leben selbst wird zu einer Veranstaltung. Es wird in die Arena oder auf eine Bühne gezerrt, wo das vorstellbar Einzelne das wirklich Gesellschaftliche dominieren, wo das Private öffentlich werden kann, weil öffentliches Leben als Erlebnis geboten wird. So wird das Ereignis produziert und trainiert, um ganz plötzlich und unmittelbar das Leben der Menschen zu beherrschen. Durch Ereignisse, die aus einem Jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, aus der Privatwelt von eventbegabten Individuen eingebracht werden, lässt sich dann auch leben, wo kein wirkliches Leben ist, wo es sich eben immerhin als besonderes Kulturereignis installieren und aufrichten lässt, jede Heimlichkeit verliert und dennoch wohl geborgen ist in der öffentlichen Akklamation. Im Event erscheinen sich die Menschen gesellschaftlich, denn darin werden sie gesellschaftlich anerkannt und sind darin auch gesellschaftlich wirksam - im Großen wie im Kleinen. Die Geschichte selbst gilt als eine Ereignis-Konstruktion der menschlichen Kultur. Sinnbildung reduziert sich daher auf das, was sie sein muss, um Geschichte zu machen, die keinen Sinn haben muss, wenn sie durch die Aufreihung einer Ereignisfolge Geschichte ersetzen kann. In den Tabellen einer sportlichen Liga, einer Show oder eines Hits hat solche Konstruktion eine öffentliche Wirkung, die schier alle Mängel wirklicher Beziehungen zu befrieden vermag.

Es zeigt sich Leben, wohin man schaut. Man könnte meinen, eine "unsichtbare Hand" hätte alles im Griff und würde das Nötige sich fügen lassen. Die Ereignis-Kultur oder Eventkultur ist tatsächlich nicht von irgendwelchen Erlebnismanager für gehobene Kulturregsamkeiten erfunden worden, sondern ein eigenes gesellschaftliches Gebilde, das sich innerhalb der einstigen Industrienationen in dem Maße herausgebildet hat, wie gegenständliche Arbeit, also die Arbeit zur Erzeugung sinnvoller Gegenstände, gesellschaftlich wirklich produktive Arbeit, ausgelagert beziehungsweise unnötig wurde. Gegenständliche Arbeit ist für die gesellschaftliche Beteiligung der Bevölkerung in den reichen Ländern immer bedeutungsloser geworden, während der Geldverkehr an Bedeutung zunahm und mit ihm die Beschäftigung durch ungegenständliche Arbeit, durch Verwaltung, Werbung, Dienste und Verkehr. Die hierin begründeten Beziehungen der Menschen wurden zunehmend und immer auschließlicher zur wesentlichen Wirklichkeit in diesen Ländern, weil vorwiegend darin noch gesellschaftliche Existenz erworben werden kann. Ein großer Anteil der Haushaltsgegenstände (ca.70%) werden zum Schleuderpreis in extremen Billiglohnländern, wie z.B. China und Indien, hergestellt. Und auch die Erzeugung von Lebensmitteln wurde zu einem nicht unwesentlichen Teil durch Importe aus ärmeren Ländern ersetzt; Landwirtschaft, Fischfang, Forstwirtschaft. Manufaktur und einfache Industrie wurden hier zunehmend unrentabel bzw. in eine Wirtschaft der Kulturpflege gewandelt. Der sogenannte Mittelstand befindet sich in der Schwebe zwischen Zuarbeit und Selbsterhalt. Was zählt ist der Export und also die wirtschaftliche Bestimmtheit durch den Weltmarkt.

Die Eventkultur ist die Kultur des Geldverkehrs, die Kultur von Dienstleitungsgesellschaften, in welchen Geldbesitz die ausschließliche Lebensbedingung ist und die Menschen in einer unendlich scheinenden Welt von Lebensmöglichkeiten zusammenhält. Daher erscheint ihnen ihr Leben ohne Zusammenhang, als Zufall bloßer Wirkungen, die sie mit Glück auch selbst bestimmen können. Hier wird gelebt, um zu erleben, genommen, was zu kriegen ist. Hier herrscht der blanke Konsum - nicht nur der von Lebensmitteln, sondern auch ein Konsum der Lebensgestaltung selbst, Kulturkonsum. Erleben ist selbst Handelsware geworden. Was an ihm noch gesellschaftlich ist, muss exklusiv und damit verkäuflich gemacht, gekauft oder gemietet werden - vor allem auch die Geräte und Lizenzen, mit denen es ermöglicht wird, auch wenn es oft nur auf dem Bildschirm geschieht (z.B. Computerspiele).

Die Entfremdung des Menschen von seiner Kultur

Solche Kultur ist Resultat einer Geschichte, in der sich die Kultur des Konsums und die der Lebenserzeugung, Bedarf und Sinnbildung, Genuss und Können, zunehmend unterschieden und gegeneinander gestellt haben. War in der Zeit der Industrieentwicklung, in der sogenannten Moderne, noch der Glaube an Fortschritt und an die Naturmacht einer gesellschaftlichen Entwicklung der Menschen vorherrschend, so stehen jetzt die Menschen eher vor den Problemen mit solcher Macht, vor Naturzerstörung, Krieg und Selbstvernichtung. Die menschliche Geschichte hat sich in der Geschichte des Kapitalismus nicht nur zunehmend anachronistisch gestaltet, sondern sich zudem in Lebensgefahr gebracht. Inwieweit stellt diese Geschichte überhaupt noch menschliches Leben, den Prozess menschlicher Identitätsbildung, Wahrheit und Wirklichkeit des Menschseins dar?

Die Zeitgeistideologen wollen einen "Geburtsfehler" der Menschheit ausgemacht haben (Peter Sloterdijk), eine angeborene Unfähigkeit zur Selbsterhaltung, ein Hang zur Traumatisierung des Lebens, zu absolutem Eigennutz, zur Zerstörung und Selbstentleibung. Das ist in Krisenzeiten für bürgerliche Intellektuelle kein sonderlich neuer oder origineller Begriff zur Beschreibung der eigenen Lebenszeit. Er wurde seinerzeit zum Beispiel auch schon von Sigmund Freud entwickelt, der in seinem "Unbehagen der Kultur" einen Todestrieb als Wesenstrieb der Menschen einführte, der sie zu einem inneren Widerstreit mit ihren "Lebenstrieben" dränge. Die selbstzerstörerischen Tenden der menschlichen Kultur seien anders nicht erklärlich. Das Leben der Menschen scheint also schon seit jener Zeit nicht mehr so einfach zu "funktionieren"; Krieg und Verelendung wurden für die gesellschaftliche Wahrnehmung auch kulturell und politisch immer bedeutsamer, gesellschaftiche Dekadenz augenscheinlich. Ein Abgesang der bisher vertrauten Selbstverständlichkeiten menschlicher Lebensäußerungen ist solcher Weltwahrnehmung nötig geworden. Humanismus sei für diese Geschichte unsinnig geworden - erörterte dereinst Martin Heidegger - und immer dringlicher erschien schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein höheres Prinzip, ein Übermensch, ein Stachel für sinnvolle Geschichtsbildung (Nietzsche), politische Führungsmacht zur "Erhaltung der Art".

In der Tat stehen die gesellschaftlichen Grundlagen menschlicher Geschichte in Frage. Was Menschen zu Menschen erst gemacht hat, die Differenziertheit ihres Wissens und ihrer Sprache und ihre sozialen Beziehungen über den Eigennutz oder Herdentrieb hinaus, drohen durch ihre Selbstunterwerfung unter die zum Sachzwang des Kapitals gewordenen Lebensverhältnisse zu versiegen. Es fehlt die Erinnerung, das gesellschaftliche Gedächtnis zur Geschichte der Menschheit, wie sie z.B. noch im Historischen Materialismus formuliert worden war. Stattdessen hatte die bildungsbürgerliche Intelligenzia es vorgezogen, den Menschen die Fähigkeit zu eigener Orientierung abzusprechen. Durch sämtliche Geisteswissenschaften zieht sich der Gedanke einer nur den Eingeweihten nachvollziehbaren Ordnung. Die menschliche Horde treibe eben nur Unsinn und schaffe Unheil, weil sie keinen Verstand für das Allgemeine habe. Damit einher ging die Behauptung, dass sich Menschen über ihr allgemeines Wesen gar nicht einig sein könnten - eben weil sie an sich nur vereinzelte Individuen seien und hieraus auch ihr Leben begründen würden. Hiergegen zerrann das Allgemeine zu einer bloßen Vorstellung, zu einer Idee überindividueller Wesenhaftigkeit, zur Mythologie gesellschaftlicher Ursprünglichkeit, welche als höhere Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhang glorifiziert wurde. Gesellschaft selbst wurde zum Mythos eines vorgestellten Allgemeinen, zur Idee eines allgemeinen Seins, einer Ideologie überhistorischer Größe und Macht, die sich jeder sachlichen Beziehung überordne und zugleich sich in der Sache offenbare, wie der Weltgeist einer ausgemachten Zukunft. Die Versachlichung der Idee verschmilzt auf diese Weise mit der politischen Allgemeinheit eines höheren Zwecks, eines Heils, welches die politische Sache als vollendetes Kapital eines abstrakten Gemeinwesens auch wirklich irgendwann erfahren könne. Die politische Reaktion ist vollkommen, wenn sie skandiert: Es lebe die Sache im Leben der Menschen für sie!

Doch auch um die Sache steht es schlecht, kann sie doch nur sein, wo Menschen sie erzeugen, bewegen und gebrauchen. Aber auf einem Markt, der vor allem nur Geld entwickelt, gerät sie in Dimensionen des Mangels und des Überflusses, die Armut erzeugen und Krisen hervorrufen. Die Menschheit hat es noch nicht geschafft, das Quantum ihrer Produktion und das Quantum ihres Bedarfs in eine menschliche Dimension zu rücken. Die Anarchie der Sachen bestimmt die Bedürfnisse und das Quantum ihres Wertes bestimmt ihre Produktion. Darin bestimmt sich ein Wertquantum fort, das jenseits der Menschen zwar keine wirkliche Qualität hat, das aber durch die Verwertungssucht alles qualitative Leben bestimmt und beherrscht. Für sich ist und bleibt die vergeldlichte Sache unendlich zwanghaft und besteht letztlich nur aus Macht und Gewalt, welche die Unterwerfung der Menschen fordert - eben weil sie ohne diese keinen Wert hat. Die Kultur der Menschen ist die Kultur ihrer Verhältnisse und diese bestimmen die Politik, welche die Not der Menschen und ihrer Kultur bewältigen sollte.

Die Politik ist aber selbst vor allem sachlich und daher vom Geld gebeugt. Wer den Reichtum des Lebens nur als Geldreichtum erfahren kann, kann auch nur reich werden, wenn er auf Geldbesitz setzt, auf die Macht der allgemeinen Sache. Um im Geld ein menschliches Lebensverhältnis zu behaupten, muss man die Kultur des Geldes zur menschlichen Kultur erklären. Kultur kann daher nicht einfach als eine - wenn auch widersprüchliche - Lebensäußerung der Menschen bleiben. Sie wird selbst zum Medium eines gesellschaftlichen Sollens in diesem Verhältnis, zu einer Lebenspflicht, zu einer Kulturmacht über die wirklichen Lebensverhältnisse.

Man setzt sich tatsächlich auch schon wieder offen und militärisch für eine "Kultur der Macht und Stärke" ein, - im Glauben, dass nur diese zur "Lösung von Menschenrechtsfragen" verhelfen könne. Die Kultur ist Pflicht, wenn es der Sache recht sein soll. Sie ist jetzt selbst zum "Menschenrecht" geworden, ihre Krise zu einer Krise der "Weltordnung", deren "Lösung" auch mal "Menschenopfer mit sich bringen könne". Die Elite gibt sich um ihrer reibungslosen Existenz besorgt und sieht sich von daher in der "Verantwortung um das Leben der Menschheit und der Welt". Sie gemahnt an hochwertige Lebensgrundlagen, an denen jeder Mensch zu fordern sei: "Du bist Deutschland"  sieh zu, dass Du auch was dafür tust. Der Einsatz für die Bewältigung "der Krise" sei zur Grundlage aller menschlichen Freiheit und Geschichte geworden, die von den niederen "Trieben des Todes", des "Ungeistes" und der Boshaftigkeit lebensfremder Zerstörungsmacht bedrängt sei. Heute stelle sich dieser Widerstreit nicht mehr nur im Leben der Menschen dar, sondern weltweit als "Kampf der Kulturen" (Samuel Huntington), in welchem die menschliche Geschichte angelangt und worin ihre Überlebensfrage gestellt sei. Der gute Mensch, insbesondere der in seiner Güte fortgeschrittene Christenmensch, sei zur Weltordnung aufgerufen und auch berufen, diese durchzusetzen - und die Nato sei als Macht des Menschenrechts und des Christentums das beste Mittel hierzu (vergl. Samuel Huntington:).

Doch solche Güte kann nicht sehr lebendig sein, gründet sie doch lediglich auf Todesmacht. Die Kulturalisierung der Entgegensetzung, des "Guten" gegen das "Böse", zeigt nur die Lähmung der wirklichen Geschichte selbst auf. Es soll damit das gegebene Dasein als das absolute Sein, als ein auf sich selbst reduziertes Sein ohne Fortgang und Entwicklung festgeschrieben werden. Der sogenannte "Kampf der Kulturen" kann also nichts anderes sein, als der Kampf um ein Sein ohne Geschichte, ein Kampf um nichts als ein Kampf um sich selbst.

Wie im Großen ist es auch im Kleinen. Die Schmiede des eigenen Glücks, die individuelle Selbstentfaltung, welche die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft war, wird nun durch diese selbst zum Erlöschen gebracht, indem ihre Hinfälligkeit als Pflicht gegenüber dem Machterhalt der kapitalistischen Ordnung begriffen wird. Die bürgerliche Gesellschaft soll durch Selbstverpflichtung der Menschen gegenüber einer Verschuldungspolitik fortgeschrieben werden, als Verschuldung des Bürgers durch seine bloße Existenz in einem kapitalsüchtigen Staat. Er soll als Teilhaber an der Gewalt einer Welt existieren, die nurmehr als existenzielle Pflicht erscheint, die jedem Menschen als Schuld auferlegt wird, sowohl sachlich als Staatsverschuldung, wie auch kulturtell als Sorgepflicht für eine allgemeine "Menschenordnung". Und das ist der eigentliche Skandal. Kultur wird zum Werkzeug der Selbsterhaltung eines feudalen Kapitalismus.

Die Welten des Scheins und die Scheinbarkeit der Welt

Mit der zur Kultur erhobenen Lebenspflicht wird also lediglich konstatiert, dass die Zeit selbst tatsächlich geschichtslos geworden ist, dass in ihrem Verlauf keine wirkliche Entwicklung mehr stattfinden kann, dass nichts wirklich vergeht und nichts Wirkliches entsteht, obwohl die Wirklichkeit alles bestimmt. Geschichtslosigkeit aber kann zugleich nicht sein. Sie ist lediglich eine Erscheinung davon, dass Geschichte keine Wirkungen zeitigt, dass sie nicht wirklich ist und also eine unwirkliche Erscheinung sein muss, eine Erscheinung von etwas, das nur im Vorbeigehen Wirkung hat, ohne wirklich zu sein, Erscheinung eines allgemeinen Wesens ohne wirklichen Grund.

Es wird der Rückgang subjektiver Gegenwärtigkeit und Kraft umso totaler erfahren, je vollständiger der bloße Geldbesitz zur ausschließlichen Lebenswelt, zur Welt unendlicher Möglichkeiten wird.  Wo sie zur Selbstverwirklichung nicht dienen kann, ziehen sich die Menschen daher aus ihrer gesellschaftlichen Lebenswelt zurück und suchen ihr Heil bei sich. Die Entfremdung der Menschen von ihrer gegenständlichen Welt entfaltet von daher vor allem Selbstsucht, einen Selbstgewinn, der solche Entfremdung immerhin vertraut erscheinen lässt. Der eigene Leib wird zum Medium zwischenmenschlicher Beziehungen, der Körper zu einer eigentümlichen Erlebenswelt selbst und von daher zu einem gesellschaftlichen Fetisch (siehe Körperfetischismus). Dort wird das Fremde als Eigenheit erlebt, als Selbstwahrnehmung der eigenen Natur, welche zugleich Selbstverwirklichung sein soll und zur Wirklichkeit einer Selbstbeziehung wird. Ein solches Selbst bekommt daher auch sein eigenes Wesen, wird zu einem bloßen Wesen der Natur, einem Trieb, einer Notdurft, einer Unterweltlichkeit schlechthin. Als blankes Dasein einer Naturstofflichkeit, kann das Leben nur noch entgeistert sein, der Körper geistlos und die Kultur lediglich die Modifikation einer Naturgewalt.

Wenn sich die Menschen selbst vor allem durch ihr körperliches Dasein verstehen müssen, weil dieses der Ort ihrer menschlichen Bezehung geworden ist, so stehen sie in einer doppelte Selbstverneinung zu sich selbst. Ein unendlicher Glücksanspruch türmt sich in ihnen auf, der ihr Verlangen nach einander, ihr wirkliches Bedürfnis als Verlangen des Menschen nach dem Menschen, in einem bloßen Erleben befriedet. In der Befriedung dessen, was Bedürfnis war, wird Verlangen schlicht aufgehoben, einem Erleben übereignet, dass sättigt, ohne zu nähren, füllt ohne zu erfüllen. Ihr Selbsterleben, ihre Selbstgefühle, ihre Erregungen und Triebe nützen nur dem Überleben in einer Welt, die für sie keinen wirklichen Sinn hat. Befriedung beherrscht Befriedigung, bietet dafür aber die Chance, ihrer wirklichen Bezogenheit zu entkommen, welche die Belastungen ihrer Wirklichkeit mit sich brächte.

Der durch seine Unwirklichkeit potenzierte Mangel an menschlicher Verbundenheit ist eklatant - und so auch das Gefühl hierfür. Ohne irgendeine Art menschlicher Verbindlichkeit versackt jede Regung in innerer Leere und verlangt nach einer Verbundenheit, die es nicht mehr wirklich gibt. So machen sich Sehnsüchte und Ursprungsromanzen und Gefühle der Gotteskindschaft wieder breit und Erweckungsbewegungen, Sekten und alle andereren Formen des allgemeinen Selbsterlebens sind heftig im Kommen. Re-Ligio, die Verbundenheit schlechthin muss sein, wo sonst nichts ist, wo nur noch pure Abstraktion herrscht. Und  zunehmend sind es die Ereignisse in den Medien und Arenen, welche die Menschen bewegen, wo ihre eigene Bewegung kein Fortkommen mehr erbringt. Die Selbstwahrnehmung hat hierdurch immerhin eine Art von Welt, worin sie sich weltlich erscheinen kann. Sie bekommt ihre Gesellschaft, einen allgemeinen politischen Inhalt, der sich als Geschichte der allgemeinen Selbstwahrnehmung gestaltet und allgemeinen Sinn macht. Es ist der Sinn eines allgemeinen Anreizes, der Ästhetik einer politischen Prominenz, die schließlich auch zunehmend die Kultur der Menschen politisiert. Gerade wo Politik nicht mehr zu einer wirklich gesellschaftlichen Entwicklung beitragen kann, wird politische Kultur zum Leitfaden allgemeiner Selbstverwertung und Selbstwertigkeit, welche Gesellschaft ersetzen soll. Es bildet sich auf diese Weise eine sublime Kultur-Elite, die einfach ganz so sein will, wie wir alle, eine Elite, die uns alle sich einzuverleiben sucht, indem sie sich als Live-Style und Live-Line für alle präsentiert.

Der damit einhergehende Lebensentzug findet daher nicht nur außerhalb der Menschen - als Ausbeutung, Enteignung, Einhegung ihrer Lebensgrundlagen -, sondern auch in ihnen selbst statt. Und das ist das eigentliche Problem der Menschen in unseren Breitengraden. Hier herrscht kein wirklicher Mangel an Lebensmitteln. Angebote von Gütern aller Art gibt’s im Überfluss, weil hier das Kapital vor allem das Problem hat, seine Wert-Produktion in Gang zu halten und deren Krisen zu überwinden. Es muss ja - seinem Verwertungstrieb folgend - immer mehr produzieren, um seinen Wert überhaupt zu erhalten und abzusichern. Und das kann es nur durch gesteigerten Konsum. Es ist nicht neu, was als Problem auf der Ebene der Konsumtion auftritt. Sie ist der Ort, wo Krise sichtbar wird und wo sie auch noch durch Kreditierung und Verschuldung überwindbar erscheint - zumindest den Strategen der Staatspolitik:

"Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde." (Karl Marx, MEW, Bd. 25, S. 501).

Nichts wäre dem "Trieb des Kapitals" lieber, als eine allgemeine Sucht der Menschen nach unendlich vielen Produkten, die durch eine immer selbstlosere und geringerwertige Arbeit verdient werden müssten, also eine hohe Abhängigkeit enthalten. Massenkonsum ist so auch zum Hauptmerkmal des globalen Kapitalismus geworden, der sich durch den Wertimport aus armen Ländern dahin gewendet hat, den Konsum in den reichen Ländern anzufachen, auch wenn dieser dort keine gesellschaftliche Substanz hat, nicht unbedingt jene Bedürfnisse befriedigt, die in diesen Ländern aus dem gesellschaftlichen Sein und seinen inneren Notwendigkeiten entstehen. Aber um wirkliche Bedürfnisse geht es auch nicht mehr, wo vor allem Geld den Zusammenhang der Menschen stiftet. Im Konsum sind für den Geldbesitzer alle Bedürfnisse gleich. Sie sind aber in einer noch viel radikaleren Form in den Individuen gleichgültig geworden: Sie bilden die Grundlage des Erlebens von Befriedigung als Befriedung ihrer gesellschaftlich erregten Leere. Die Erlebensgier verwirklicht sich als Befriedigungssucht, indem sie tatsächlich Frieden stiftet, weil sie innere Erregung auflöst, tatsächlich Menschen zusammenbringt, indem sie ihre Erlebnisse zu einer Gemeinschaft kürt, und tatsächlich gleich macht, was gegensätzlicher nicht sein kann. Was Unruhe stiften könnte, wird runter- und weggespült, indem "Positiverfahrung" durch alle Medien und Gratifikationseinrichtungen gesellschaftlich verfügbar ist. Mit Unterhaltung wird positiver Umgang beigebracht, Moral und Sitte in eine sich aus dem Erlebnis selbst verstehende Prominenz gehoben. Selbstdarstellung, die unmittelbar vielleicht peinlich wäre, erscheint im Internet oder auch sonstwo im "öffentlichen Raum", auf den Boulevards oder in Talk-Shows zur öffentlichen Belustigung oder Ereiferung freigegeben. Sie wird zum Kick der besonderen Originaltät, die jeden anspricht, weil sie jedem entspricht. Der einzelne Mensch wird zum gemeinen Menschen, zu einem gleichgeschalteten Individuum, das sich in seinem Selbsterleben zugleich originell vorkommen kann, gleich, ob es von seinen Todessehnsüchten oder seinen Liebesnächten berichtet. Was befriedigt, das verschafft auf jeden Fall Zufriedenheit. Und das vor allem ist die Botschaft, welche die zeitkonformen Medien zu vermitteln haben in einer Welt, die aus bloßer Gewohnheit besteht, einem Wohnraum, der zugleich eine Lebensburg gegen die wirkliche Welt ist.

Das "Tittytainment" ist als Schlagwort längst in der Wirklichkeit angekommen. Im absoluten Konsum sollen die Menschen besinnungslos und ihnen die Prothesen für eine Identität verschafft werden, worin sich nurmehr der Verwertungszwang des Kapitals verwirklicht. Und das ist ausdrücklich und explizit vom bestehenden Weltmanagement gewollt, sei es auf den Weltwirtschaftskonferenzen, sei es in den programmatischen Erklärungen der neoliberalen Politik

Das Kapital hat nicht nur die räumliche Form des Kapitalismus und damit die bürgerliche Gesellschaft aufgehoben, sondern auch einen neuen Lebensraum erschlossen: Die unmittelbare Körperlichkeit der Menschen. Es hat ihr gegenständliches Verlangen nach Produkten zur Erhaltung und Entfaltung ihres Lebens zu einem Bedürfnis des Selbsterlebens gewendet, worin sich eine Welt voller Selbstwahrnehmungen entfaltet hat, die dem einzelnen Individuum vor allem Selbstwert - bzw. Minderwert - vermittelt und von da her die zwischenmenschliche Beziehung der Menschen bestimmt. Ihre Kultur gilt ihnen nurmehr als das, was sie ihnen in socher Beziehung wert ist.

Die Menschen erscheinen sich darin als ausschließliche Kultursubjekte, die keine gesellschaftlichen Beziehungen über ihre Bedürfnisse nötig haben. Auch das globale Kapital verwertet sich immer weniger durch die Produktion organisch notwendiger Güter. Die Produktproduktion unterordnet sich zunehmend der Produktion von Abhängigkeit, die dem Finanzmarkt taugt: Die Bindung der Wertschöpfung an die Benutzung durch Lizenzen, Mieten, Ressourcenkontrolle, schwer auflösbare Vertragsbindungen überhaupt. Dem Kapital geht es auf dem Weltmarkt immer weniger um den Arbeitsprozess als solchen, als um die Funktionalität der menschlichen Bedürfnisse für eine Produktform, die ihren Bezug zu menschlichen Bedürfnisse aufgegeben hat und vor allem den Notwendigkeiten des globalen Kapitals folgt, die Fiktionen vorgeschossener Geldüberflüsse einzulösen. Einzig wirkliches Produkt ist Geld. Und die menschliche Reproduktion wird nurmehr als Erpressungsmittel hierfür genommen. Das fixe Kapital schwindet zugunsten einer schier unendlich gewordenen Zirkulation von fiktivem Kapital.

Selbstwahrnehmung und Selbsttäuschung

Menschliche Identität verwirklicht sich in der Aneignung menschlicher Erzeugnisse durch das erzeugende Subjekt, also durch die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. In den Bedürfnissen der Menschen, in ihrem Verlangen nach Entwicklung und Gegenständlichkeit, steckt die Substanz ihres Lebens, ist die Subjektivität der Freiheit zugleich Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Die Bedürfnisse der Menschen entstehen durch Menschen in ihren Verhältnissen zu anderen Menschen und den Gegenständen ihrer Beziehung, durch die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Produktionsmittel, durch die Bildung ihrer Sinne und Sachen. Die ganze Kultur ist als ein Verhältnis der geschichtlichen Bildung von Bedürfnis und Befriedigung zu verstehen. Besteht diese Kultur nur aus Geldverhältnissen, so haben die darin gebildeten Bedürfnisse unmittelbar keinen Sinn, weil ihre Befriedigung selbst nur noch eine Beziehung des Geldes verwirklicht. Wo aber Bedürfnisse keine wirklich menschliche Beziehung mehr enthalten, ist auch das darin sich äußernde Verlangen selbst nur auf sich bezogen.

War das Bedürfnis noch das notwendige Verlangen des Menschen nach seinem Gegenstand, nach seiner Vergegenständlichung in seiner gesellschaftlichen Naturstofflichkeit, so besteht es jetzt als bloßes Verlangen nach eigener Wirklichkeit. War es Grundlage aller menschlichen Geschichte, Güter zu erzeugen, die das Leben der Menschen bereichert, so ist es jetzt ein einfältiges Begehren nach Möglichkeiten der Einverleibung fremder Dinge.

An den Mitteln zur Befriedigung mangelt es nicht. Es mangelt allgemein an Sinn, an Mitteln, die zum Leben wirklich und sinnvoll nötig sind, an sinnerfüllter Tätigkeit, an sinnvollen Wohnungen, guter Ernährung und natürlichen Lebensumständen, an Lebendigkeit, an begründetem Sein, an Wesen und Tiefe im Leben der Menschen. Stattdessen steht Masse im Angebot, unendlich viele und oft sinnlose Dinge, Gegenstände, die kein Verlangen befriedigen sondern selbst Verlangen wecken müssen, um in eine - wie auch immer bedürftige - Privatwelt eingehen zu können. Das Verlangen bezieht sich nurmehr auf einen Reiz, auf Erregung, auf Anmache, auf alles was zur Befriedung taugt und sich auch darauf reduziert. War in den Bedürfnissen der Antrieb zur Befriedigung wirksam, die Notwendigkeit, durch ihren Gegenstand Frieden in sich zu finden, so ist es jetzt das bloße Verlangen nach einer Befriedung aufgebrachter Gefühle, nach einer Identität, die bleibt, wie man sie hat und nimmt, Identität einer Wahrheit, die nicht wirklich sein kann.

Die Reduktion wirklicher Bedürfnisse erfolgt über ästhetische Kräfte, welche die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Menschen beeindrucken. Sie wirken also nicht notwendig von außen, sondern beherrschen die Selbstwahrnehmung der Menschen dadurch, dass sie gegenstandslose Wahrnehmung durch sinnlichen Anreiz ersetzen. Weil die Menschen in der ungegenständlichen Welt des Geldverhältnisses sich selbst nichtig empfinden, suchen sie nach Selbstwert, der sie zu unendlichem Selbstgefühl erhebt. Und dieses hat seine Wirkung in zwischenmenschlichen Verhältnissen. So gründet das Verlangen der Menschen nach einander wesentlich auf Selbstwahrnehmung, vermittelst derer sie sich wechselseitig beeindrucken, soweit sie in der Lage sind, diese lebbar zu machen, und das heißt: zum Erleben zu bringen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen regt sich das Leben der Menschen, aber in seiner Gegenstandslosigkeit wird es zur Selbsterregung gebracht und erzeugt Reize, welche die Menschen vor allem nur auf sich selbst zurückwerfen.

Der Gegenstand solcher Beziehungen ist der Mensch für sich. Er soll Erlebnisse verheißen, die Frieden stiften, wo Unzufriedenheit über den Verlust gegenständlicher Wirklichkeit herrscht. Darin wird die Selbstwahrnehmung einzig in ihrem Selbstwert befriedigt, im Beisichsein erhabener Selbstgefühle. Darin ist eine Selbsterregungen lebendig, die sich zu Hause fühlt, wenn sie befriedet werden. Wie das Bedürfnis, so hat sich somit auch das zwischenmenschliche Erleben dem Verlangen nach menschlicher Wirklichkeit entzogen. Durch das expandierende Selbsterleben werden wirkliche Bedürfnisse nicht nur ersetzt, sondern zugleich auch wirklich zunichte. Ihre Gegenstände mögen nach wie vor den Notwendigkeiten des Stoffwechsels folgen; ihr Sinn aber besteht nicht mehr hieraus, weil dessen wirkliche Kultur in übermäßiger Wirklichkeit verausgabt ist. Die Gegenstände der Selbstwahrnehmung sind nurmehr reizvoll, bewegen daher also selbst keinen menschlichen Sinn, auch wenn sie ihn ästhetisch beleben.

Was Kulturgut der Menschen ist, wird zum Massenartikel eines Marktes, der lediglich Geldüberfluss bedient. Kultur vergeht in den unendlichen Möglichkeiten des Befriedigungserlebens und die Selbstwahrnehmung der Menschen wird zur Wahrnehmung einer leeren Selbstbezogenheit als Form ihrer Befriedung. Deren Geschichte kann nur als Geschichte einer gigantischen Selbsttäuschung verlaufen, einer Vertauschung von Mangel und Überfluss, von Bedürfnis und Selbsterleben - kurz: Einer menschlichen Verarmung inmitten des Reichtums. Es ist daher nötig, den Menschen in den Momenten dieser Täuschung selbst zu entdecken, Verfälschungen und Verkehrungen seines Lebens nachzuvollziehen und zu analysieren oder kurz: Menschliches Leben in der Verschrobenheit dieser Welt des Geldes aufzuweisen und dessen Verhältnisformen in dessen Verhältnissen nachzuvollziehen und seine Formbestimmtheit bloßzulegen. Um den Entfaltungsprozess dieser vertauschten Wahrnehmung der Selbstwahrnehmung soll es hier gehen.

Wissenschaft als Kritik herrschender Formationen

Wissenschaft - sofern sie nicht nur Aussage über Wissen und Gewissheit ist - ist überhaupt nur nötig, wo Täuschung herrscht, wo die Wirklichkeit nicht das ist, als was sie erscheint. Weil und sofern sie ein Unding ist, weil und sofern eben Wesen und Erscheinung menschlicher Lebensverhältnisse auseinanderfallen, muss wissenschaftliche Analyse deren Grund erkennen und Wissen auf menschliche Gewissheit zurückführen. Von daher kann Wissenschaft sich nur aus Ungewissheiten der Wirklichkeit begründen, die nicht aus den Menschen und ihren Handlungen erklärlich sind, sondern aus einem allgemeinen Wesen, durch welches sie bestimmt sind, wodurch sie sich also selbst fremd werden müssen. 

Solche Wissenschaft befasst sich nicht einfach "voraussetzungslos" mit irgendeinem Gegenstand, sondern vor allem auch kritisch mit ihrem eigenen Daseinsgrund. Indem sie sich mit diesem Gegenstand auseinandersetzt, befasst sie sich zugleich kritisch mit ihrem eigenen Daseinsgrund, mit ihrer Bestimmtheit. Aus ihrem Gegenstand erkennt sie sich selbst, indem sie sich durch dessen Ungewissheit bestimmt weiß. Die Abstraktionen vom wirklichen Leben der Menschen erklären auch die Not ihrer Erkenntnis. Diese hat von daher keinen anderen Grund, als den Grund zu erkennen, der Wirklichkeit unwirklich macht, den Grund für die Macht einer Form zu finden, welche die Inhalte menschlicher Lebensverhältnisse deformiert, ihre Wirklichkeit verrückt.macht. In der Sprache ihrer Theorie bezieht sich daher dieses theoretische Bewusstsein auf praktisches. In der Selbstkritik der Wissenschaft begründet sich das Verhältnis zu ihrem praktischen Gegenstand: Sie selbst will im gegenständlichen Bewusstsein, also als bewusste Praxis aufgehen. Das Unwirkliche der Wirklichkeit ist der Ausgangspunkt ihrer Analyse, die das allmächtige Wesen einer dem Menschen fremden Substanz erschließt. Indem hieraus das Wesen des Unbestimmten, des Abstrakten, als Substanz einer Existenzform, als Bestimmung fremder Erscheinungen begriffen wird, versetzt Wissenschaft die Ungewissheit selbst in die Wirklichkeit und bereitet ihre wirkliche Leidensform als Lebensverhältnis der Menschen auf, das durch niemandem anderes als durch diese selbst geändert werden kann. Indem hierdurch aus den herrschenden Existenzformen der menschgemachten Welt die Wesensnot der Menschen bloßgelegt ist, eröffnet sich ihnen die Chance, endlich für sich selbst wesentlich zu werden. Die Not, welche allgemein herrscht, kehrt sich in die Notwendigkeit, die Herrschaft fremder Ungewissheiten durch eigene Wirklichkeit zu überwinden. Es wird die "Waffe der Kritik" zur Grundlage einer menschlichen Emanzipation, die nötiger nicht sein kann. 

Bürgerliche Wissenschaft betreibt das Gegenteil. Sie geht von einem Erkenntnisinteresse aus, worin sie eine Vorstellung oder Idee von ihrem Gegenstand verfolgt, sei es als Aufklärung, Idealismus oder Pragmatismus oder Rationalismus. Sie betreibt eine wissenschaftliche Vernunft, nach welcher sie ihren Gegenstand reflektiert. Hiernach reduziert sie ihre Wahrnehmungen auf eine Allgemeinheit oder Hypothese, mit der sie Phänomene ordnet, also nach ihrem Interesse sortiert, um ihrer vernünftigen Handhabung zu dienen. Aber solche Vernunft kann selbst nur der Logik der herrschenden Gegebenheiten folgen, welche ihr einziges Wahrheitskriterium ist. Indem bürgerliche Wissenschaft deren Phänomene sammelt, bestimmt sie eine Notwendigkeit des allgemein Logischen gegen das wirklich Nötige. Allgemeine Aussagen werden zu einer schlichten Wesensbehauptung dessen, wovon sie absieht, indem sie das bloße Phänomen verallgemeinert. Es wird das Abstrakte im Allgemeinen affirmiert, schlechthin zum positiven Wesen des Daseins. Darin vermittelt sich ein Unwesen, ein Wesen der Abstraktion als Formbestimmung, das unbefragte politische Grundlage dieser Verhältnisse ist, das die Logik ihrer Allgemeinheit, die allgemeine Form der Verhältnisse eben ausmacht, der Besitzverhältnisse, worin das Private das Gesellschaftliche bestimmt. Solche Wissenschaft bekämpft implizit - und immer deutlicher auch explizit - die Chancen menschlicher Emanzipation, indem sie die Formbestimmungen der gegebenen Lebensverhältnisse selbst für wesentlich hält.

Die Kritik der Verhältnisse artikuliert sich zuerst durch Sprache. Darin trifft theoretisches Wissen und praktisches Bewusstein zusammen. Die Sprache selbst ist immer praktisch, als Gedanke oder als Begriff von den Gegenständen über die man spricht. Auch theoretische Erkenntnis teilt sich nur durch Sprache mit, und sei es auch nur als Anspruch oder Ideologie. Um die bürgerliche Wissenschaft zu kritisieren, muss von ihrer Sprache ausgegangen werden. Man kann ihren Gegenstand nicht neu erfinden. Man kann sich leicht von ihr absetzen oder durch eigene Sprache schon eigenes Wissen behaupten, kann das sprachliche Ghetto, in das man dann gerät, als neue Welt von eigener Wahrheit verstehen. Doch damit ist man zugleich dem Gegenstand der Wissenschaft, also auch dem eigenen entrückt. Dagegen hat auch die bürgerliche Wissenschaft durchaus Material hierüber beschafft. Und wo ihre Sprache nicht ihren Gegenstand bespricht, z.B. weil sie lediglich Ideologie artikuliert, stellt sie selbst sich widersprüchlich dar. Nicht die Abweisung ihrer Begriffe löst solche Sprache auf, sondern die Darstellung ihrer Widersprüchlichkeit selbst. Wissenschaft wird widersprüchlich, wo sie keine Konsistenz ihres Wissens findet, weil sie sich selbst ihrem Gegenstand widersetzt.

Die Kritik der bürgerliche Wissenschaft muss daher an ihren eigenen Begriffen ansetzten, erst mal also immanente Kritik sein, um ihren wahren Gegenstand zu erkennen. Die bürgerliche Wissenschaft verkennt ihren Gegenstand, eben weil sie dessen reale Abstraktion gedanklich teilt. Es ist dies ihr politisches Interesse, dem sie ihre Tätigkeit unterordnet. Und es muss deshalb eine kritische Theorie dem entgegentreten, die sich solche Abstraktion selbst zu ihrem Gegenstand macht. Kritik wird so zu einer Theorie, die den Gegenstand als Ganzes, als Lebenszusammenhang der Menschen gegen die abstrakt bestimmten Formen ihrer Existenz herausarbeitet.

Kultur ist der existierende Lebenszusammenhang von Geist, Gestaltungskraft, Erfindungsreichtum, Liebe und Sinn, den die Menschen entwickelt und ihren Produkten gegeben haben und geben und als solchen auch pflegen, sich darin verhalten und miteinander umgehen. Sie ist geschichtliche Gegenwart ihrer Arbeit und ihrer Bedürfnisse, welche darin verwirklicht sind. Die Kritik der politischen Kultur geht also nicht gegen die menschlichen Gebilde und Gefühle und Bedürfnisse, die in der Kultur gegenständlich sind, sondern gegen die Formationen ihrer Beziehungen, den Selbstwertigkeiten, welchen diese in ihren Lebensverhältnissen unterworfen sind. Die Kritik der politischen Kultur kann nur in Einheit mit der Kritik der politischen Ökonomie darin aufgehen, dass die Menschen ihre wirklichen Lebensverhältnisse finden, empfinden, begreifen und sich darin als deren Subjekte erkennen.

"Der Mensch verliert sich nur dann nicht in seinem Gegenstand, wenn dieser ihm als menschlicher Gegenstand oder gegenständlicher Mensch wird. Dies ist nur möglich, indem er ihm als gesellschaftlicher Gegenstand und er selbst sich als gesellschaftliches Wesen, wie die Gesellschaft als Wesen für ihn in diesem Gegenstand wird.

Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d.h. Gegenstand wird er selbst. Wie sie ihm als seine werden, das hängt von der Natur des Gegenstandes und der Natur der ihr entsprechenden Wesenskraft ab; denn eben die Bestimmtheit dieses Verhältnisses bildet die besondre, wirkliche Weise der Bejahung. Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr, und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohrs. Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist grade ihr eigentümliches Wesen, also auch die eigentümliche Weise ihrer Vergegenständlichung, ihres gegenständlich-wirklichen, lebendigen Seins. Nicht nur im Denken, sondern mit allen Sinnen wird daher der Mensch in der gegenständlichen Welt bejaht." (Karl Marx, MEW 40, S. 541f.)

Wolfram Pfreundschuh