Wolfram Pfreundschuh (Oktober 2001)

Internetversion 1.4

"Gibt es einen "Kampf der Kulturen"?

 

Am 11. September 2001 hat eine ungeheuere Terrorattacke auf die USA die Welt erschüttert. Der Rauch aus den Trümmern des World-Trade-Centers hatte sich noch nicht verzogen, da wurde schon von der gesamten Medienwelt des Westens verbreitet, dass der Terroranschlag "uns allen" gelten sollte, unserer Lebensweise, unseren Lebenszielen, unserer Kultur. Die Erklärung für das Ereignis lagen längst parat, in den Schubladen der Pressebüros, vorbereitet von den Kriegsstrategen und zielten auf eine globale Antwort auf den Fall X, weil die Aktion Y eben längst fällig ist. Jetzt ist das Gefühl da, mit dem zur Tat geschritten werden kann: Wir sollen zerstört werden und müssen deshalb zerstören, was uns angreift. Das sind nicht einfach Terroristen. Es ist die fremde Kultur des Isalm schlechthin.

Schon wieder mal fühlt sich das Abendland bedroht und rüstet zum Kulturkampf. Wir kennen den Begriff ja schon aus den dreißiger Jahren (1). Immer wenn die Sache, um die es geht, im Dunkel bleiben soll, da wird die Seele zur Sache: Die Gefühle, die Geisteskräfte, die Lebensweise, das Aussehen, die Art und Weise des Handelns und Reagierens. Und dann wird auch alles gesammelt und zusammengefaßt, was dazu taugt, einem Gegner den Anschein eines Monsters zu verleihen. Oft ist es dabei nicht mal wichtig, ob das Scheinbare auch wirklich dem Gegner zuzuordnen ist, denn der Angriff allein spricht für sich und ein angreifendes Monster soll alle Waffen und Bündnisse aktivieren, durch die es vernichtet werden kann. Das bedrohte Ich braucht das böse Du und nutzt seine Selbstgerechtigkeit für einen Kampf, der nur noch ungeheuerliche Feinde, aber keinen Grund zu haben scheint.

Die Vernichtung wird durch solche Rechtfertigung total und allseitig. Reaktion wird Aktion bis zum Ende. In einem solchen Moment sollte der Verstand einsetzen. Was oder wer ist bedroht? Was ist wirklich geschehen und was geschieht überhaupt? Die Kriege, die geführt werden, sind voller Terror. Ein Krieger zeigt sich nicht, wenn er schießt. Auch Hunger und Zerstörung zeigen ihre Ursache nicht offensichtlich. Alle zwei Stunden sterben mehr Menschen an Hunger, als durch den Terroranschlag auf das World-Trade-Center umgekommen sind und es müsste kein Mensch Hunger leiden, wenn die Rüstungsausgaben zur Versorgung der Menschen und die Entwicklung von Arbeitsstrukturen zur Verfügung stünden. Geld und Kapital gibt es im Übermaß, aber es gehört nur ein paar wenigen, obwohl es von vielen be- und erwirtschaftet wird.

Ein Terroranschlag ist ein schlimmer Angriff, nicht nur für die unmittelbar betroffenen Menschen. Aber ein solcher Angriff auf die Symbole der US-Wirtschaftsmacht zeigt doch auch, worum es geht. Und das war wohl auch der Treffer. Die Reihen waren schneller geschlossen als der Verstand. Und was formuliert wurde, spricht für sich: Ein Angriff auf das Zentrum des Welthandels und des amerikanischen Militärs gilt als ein Angriff auf unsere Kultur! Der ist nicht einfach ein Verbrechen oder eine grausame Attacke, gegen die eine Art von Polizei eingesetzt werden muss. Er ist genau das, was schon lange gefürchtet, gedacht, geschrieben, gelesen und herausgestellt worden war: Eine Bedrohung der westlichen Kultur. Es ist eine Kultur, die sich vor den Trümmer fürchtet, die sie in anderen Kulturen hinterlassen hat. Aber über diese Trümmer darf auf den Trümmern des World-Trade-Centers nicht mehr gesprochen werden. Redeverbot bedeutet Denkverbot, und das muss natürlich kräftig unterlegt sein.

Die uns fremde Kulturen werden daher jetzt besonders umfassend als Grundlage für Böses vorgestellt, als Religionen der anderen Art, welche die Grundlagen von Terrorismus liefern sollen. Schließlich liefert ihre Religion ja auch eine mächtige Waffe: Die Glücksversprechung des Paradieses für den Selbstmordattentäter. Da kann "der Westen" seit den Kreuzzügen nicht mehr dagegenhalten und der Neid auf diese Waffe ist ihm anzumerken. Die Medien zelebrieren nicht mehr Waffentechnik, sondern abendländische Arroganz: Wir, die friedlichen und rechtschaffenden Menschen sind bedroht durch eine "Kultur des Terrors", die nicht mal vor dem Einsatz von Menschenleben zurückschreckt (in welchem Krieg ist das anders?) und ihm auch noch Glück verspricht, wenn er sein Leben verliert (in welcher Religion ist das anders?). Wenn jemand zuschlagen will, dann streitet er sich nicht auf der Ebene, um die es geht, sondern auf der Ebene, worauf er seinen Schlag schon im Vorhinein rechtfertigt. Der andere ist nicht recht bei Verstand, quasi allgemeingefährlich. Eine "unberechenbare" Kultur greift unsere gefestigte Kultur an.

Die Macht des Bösen war schon immer das Bild des Feindes und beschrieben wurde der Kampf der Kulturen auch schon früher, zu Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Dritten Reich. Aber seit dem Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers und Beraters des US-Außenministeriums Samuel P. Huntingtons "Der Kampf der Kulturen" (1996) soll das nicht mehr wie Kriegspropagande klingen, sondern "wissenschaftlich". Diese "Wissenschaft" läßt sich zwar weder nach einfachen Kriterien des kritischen Rationalismus belegen (vergl. Harald Müller: "Der Mythos vom Kampf der Kulturen"(3)), noch gibt sie schlüssige Auskunft über das Zeitgeschehen (z.B. in der Darstellung des "Jugoslawien-Kriegs" oder des Afghanistan-Konflikts mit Rußland oder der Beschreibung des Islams), aber sie ist für den Alltagsverstand, der sich vorwiegend über die Medien verbreiten läßt, eingängig.

Die "Wissenschaftlichkeit" besteht aus einer Psychologie, die sich in einen Wust aus Informiertheit kleidet, und doch nur beschreibt, was eben in den Wohnzimmern leicht zu verstehen ist: Die Welt ist bedroht durch Krieg und Kriege werden von Kulturen ausgelöst, die sich gegenseitig bedrohen und den Untergang der anderen betreiben. Das ist gefährlich. Das kennt man ja auch aus den Psychokriegen im eigenen Haus. Aber hier geht es nicht um unsere Kultur, die ja friedfertig sein will, sondern um die anderen, um Kulturen, die uns fremd sind und sich von uns abgrenzen und andere Sitten und Gebräuche und demzufolge wohl auch andere Lebensziele haben müssen. Dort gibt es Hunger und Elend und das Leben ist von einer Härte, die wir fürchten müssen und die deshalb auch bedrohlich für uns ist.

Es gibt vielerlei Anschaulichkeiten, die zu beschreiben wären und über die man nachdenken könnte. Es ist nicht schlecht, von anderen Kulturen zu erfahren. Allerdings sollte man sich zumindest erst mal darüber einig sein, was als Kultur und Kulturkreis zu fassen ist. Ist es wirklich nur das Gebiet, in welchem eine Religion verbreitet ist? Und: Lassen sich die sogenannten "Kultur-Konflikte" aus dem Streit von Glaubensrichtungen erklären? Harald Müller belegt in seiner Schrift "Der Kampf der Kulturen findet nicht statt" (2), dass es hierfür wenige Anzeichen gibt, und diese wenigen sind eingepolstert in wesentlich umfänglichere Probleme. Aber für Huntington ist selbstverständlich, dass Glaubensgegensätze eben auch Konflikte bis zur Selbstvernichtung auslösen, denn er will ja nur beschreiben, was sich den Gefühlen darbietet und er will dafür eintreten, dass auch dort eine bessere Verständigung entsteht, damit der "Kampf der Kulturen" zu einem Dialog in unserem Sinne werden kann. Mit seiner sehr bescheidenen Wahrheit zieht das Buch aber gigantische Schlußfolgerungen. Die wichtigste ist, dass der Westen sich entscheiden muss, ob er sich in dem Gemetzel der Kulturen nur zerreiben will oder ob er begreift, dass er sich als Universalkultur, als einzige Möglichkeit für einen Weltfrieden durch setzen muss.

"Der Westen ist, mit einem Wort, eine ,reife' Gesellschaft an der Schwelle dessen geworden, was künftige Generationen einmal als ein ,goldenes Zeitalter' betrachten werden, eine Periode des Friedens, die, laus Quigley resultiert aus ,dem Fehlen rivalisierender Einheiten im Inneren der betreffenden Zivilisation und aus der Entferntheit oder dem Fehlen von Kämpfen mit anderen Gesellschaften außerhalb ihrer'." (S. 497) Sicher, auch der Westen habe Probleme (Kriminalität, Verfall der Familie, schwindendes "Sozialkapital", Nachlassen der "Arbeitsethik", "abnehmendes Interesse für Bildung und geistige Betätigung" usw.), und er wird deshalb auch von manchen Menschen in Frage gestellt. Aber auch dies doch meist nur "von Einwanderern aus anderen Kulturkreisen, die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaften zu praktizieren und zu propagieren." (S. 501) Das Übel ist der Gegensatz. Die Kriege auf der Welt sind für den amerikanischen Professor "Bruchlinienkriege" der Kulturen und er malt ganze Karten davon und Demographien der Völker und stellt Beziehungsmuster über die Konfliktträchtigkeit von Glaubenssätzen her (S. 395 f), die aussehen wie eine Familienaufstellung des Psychomissionars Hellinger. Es geht dem Professor wie dem Psychologen eben hauptsächlich um "grundsätzliche Machtrivalitäten" zwischen den Beteiligten und ihren Machtbedarf in die sonstige "multipolare Welt" hinein (S.397) - und damit meint er uns.

Dabei übergeht er viele wichtige Fakten. Wäre ja auch zu schön, wenn zum Beispiel die "Bruchlinie" zwischen Christentum, Griechischer Orthodoxie und dem Islam durch den Balkan verliefe und den Grund für den dortigen Krieg hergäbe. Es ist aber nicht so. Harald Müller hat das in seinem Aufsatz "Der Kampf der Kulturen findet nicht statt"(2), sehr schön verdeutlicht: "Huntingtons Lesart des Bosnien-Konflikts wirft ein Licht auf seinen Umgang mit der empirischen Wirklichkeit. Laut Huntington verbündeten sich die westlichen Länder mit dem katholischen Kroatien, die orthodoxen Rußland und Griechenland leisteten Serbien Hilfe, die islamische Welt unterstützte die bosnischen Muslime. Tatsächlich sah es aber so aus: Zu Beginn des Konflikts standen das (mehrheitlich protestantische) Deutschland und das gleichfalls protestantische Dänemark für Kroatien, die katholischen Frankreich, Spanien, Italien und das anglikanische England hielten es mit Serbien. Im Verlauf der Kämpfe änderten sich die Sympathien. Der Westen schwenkte unter dem Druck der öffentlichen Meinung zur Unterstützung der bosnischen Muslime über. Schließlich entschloß sich der Westen nach langem Zögern zum militärischen Eingreifen und zum Einsatz von fünfzigtausend Soldaten, um die Reste von multikulturellem Staatswesen und muslimischer Autonomie zu schützen. Rußland beschränkte sich darauf, serbische Interessen minimal zu schützen. Es stimmte bereits zu Anfang den wirtschaftlichen Sanktionen gegen Restjugoslawien zu und verhinderte die Bestrafungsaktionen der NATO nicht. Wäre der Krieg nach dem Schema des "Kulturkampfes" abgelaufen, so hätten die westlichen und orthodoxen Bündnismächte, die Pläne Milosevics und Tudjmans, Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufzuteilen, befördern müssen - das wäre ein Beleg für Huntingtons These gewesen. Am schlimmsten schlägt sich das Huntingtons Theorie innewohnende Vorurteil in seiner abschließenden Einschätzung des Krieges nieder: "In Bosnien haben Muslime einen blutigen und verhängnisvollen Krieg mit orthodoxen Serben geführt und auch gegen katholische Kroaten Gewalt ausgeübt". Hier verkehrt sich das Täter-Opfer-Verhältnis kraß. Aber da Huntington mit dem Vorverständnis vom "blutigen Islam" an den Krieg herangeht, bleibt die Wahrheit auf der Strecke."

Je mehr sich Menschen oder Kulturen nur mit sich selbst befassen, desto mehr fürchten sie die Andersartigen. Der Liberalismus der Amerikaner ist ein Label für Weltoffenheit und steht ganz im Widerspruch zu ihrer Befassung mit der Welt. Ihre Medienleute, Politiker und Wissenschaftler lösen diesen Widerspruch auf in einer Mystifikation der Rolle der USA als Polizist der Welt. Amerikanische Politik ist nicht offen, sondern muss andere erst bestimmt haben, um für sie offen zu sein. Und hierfür taugt eben der Polizistenmythos. Die Vorherrschaft der USA ist nötig in der Sorge um das Gute und deshalb plagt den liberalen Amerikaner nicht die Angst vor anderen Kulturen, sondern die Sorge um die Weltgeschichte.

Aber solche journalistisch begabten Politologen wie Huntington verraten ihr Propagandatätigkeit in ihrer Argumentation. So besorgt sie sich für einen Dialog mit den Andersartigen einsetzen wollen, so schlimm ist ihnen diese Andersartigkeit von Kulturen, weil es hierdurch kein "gemeinsames Haus" (S. 505) auf dieser Welt geben kann. Und weil die Amerikaner nun mal häuslich sind und keine eigene Kultur haben, müssen sie danach suchen. Huntington findet sie in den Ursprüngen Amerikas: In Europa (S. 505).

So ist für ihn in den "Kampf der Kulturen" der Kampf um das transatlantische Bündnis einbezogen. Amerika will nicht mehr alleine für seine Interessen gerade stehen. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft kommt ihm zumindest für seine Kulturpropaganda im rechten Moment: Jetzt haben wir endlich den kulturellen Kern der Atlantischen Gemeinschaft (NATO)! Denn die beruhe auf vier Säulen: "Verteidigung und Sicherheit innerhalb der Struktur der NATO; gemeinsamer Glaube an Rechtstaatlichkeit und parlamentarische Demokratie; liberaler Kapitalismus und freier Handel; das gemeinsame Kulturerbe Europas, ausgehend von Griechenland und Rom über die Renaissance bis zu den gemeinsamen Werten und Überzeugungen und der gemeinsamen Kultur unseres eigenen Jahrhunderts". (S. 506) Und daran kann dann auch locker angeschlossen werden , was nötig ist, was doch diese Welt der Welten zusammenhalten könnte: transatlantische Freihandelszonen und so weiter und so fort.

Die Amerikaner haben begriffen, dass sie genau in dem, womit sie ihre Politik nun begründen wollen, die Weltkultur als Garant des Weltfriedens, nichts zu bieten haben. Und auch Europa ist nach dieser Begrifflichkeit im Abbau: zu wenig Nachwuchs, zu wenig soziales Interesse, zu wenig Nationalstolz. Aber dafür hat Huntington die Lösung: "Wenn Nordamerika und Europa ihre moralischen Grundlagen erneuern, auf ihre kulturelle Gemeinsamkeit bauen und Formen einer engen wirtschaftlichen und politischen Integration entwickeln, die ergänzend neben ihre Sicherheitszusammenarbeit in der NATO treten, könnten sie eine dritte, euroamerikanische Phase des wirtschaftlichen Wohlstands und politischen Einfluß stiften. Eine sinnvolle politische Integration würde in einem gewisssen Umfang ein Gegengewicht zum relativen Rückgang des westlichen Anteils an Bevölkerung (!), Sozialprodukt und militärischem Potential (welche Lüge!) der Welt bilden und in den Augen von Führungspersönlichkeiten anderer Kulturen die Macht des Westens erneuern. ,Das Bündnis aus EU und NAFTA könnte in einer geballten Handelsmacht dem Rest der Welt die Bedingungen diktieren', mahnte Ministerpräsident Mahathir die Asiaten. Ob der Westen politisch und wirtschaftlich zusammenfindet, hängt jedoch überwiegend davon ab, ob die USA ihre Identität als westliche Nation bekräftigen und es als ihre globale Rolle definieren, die Führungsnation der westlichen Kultur zu sein." (S. 506f).

Das ist ungeheuerlich und gefährlich: Der Trittbrettfahrer der Kulturen will ihr Steuermann werden. Er fühlt sich angegriffen, wo er gar nichts hat und will um etwas kämpfen, wovon er nichts versteht. Das zeigt die Lüge auf einen Blick: Es geht nicht um den Kampf einer Kultur gegen eine anderen. Es geht um viel, eigentlich um alles, um die letzte große Schlacht. Die "Verteidigung der eigenen Kultur" wird zur Verteidigung der friedliebenden Welt verklärt, zum Kampf um die Zivilisation schlechthin, zum Kampf gegen die "Achse des Bösen" - und dagegen muss alles mobilisiert werden.

Verrückt, dass die deutschen Politiker daneben stehen und, wenn schon nicht gerade applaudieren, so doch ministrieren. In Amerika steht die Propaganda und auch bei uns wird die ganze Politik dem Primat des Kampfes gegen den Terrorismus unterworfen. Nicht, weil wir es nicht anders wüßten, sondern weil damit allerhand durchzusetzen ist, was das Regieren leichter macht. Die Parole ist gefährlich; aber sie soll jeden "unserer Bürgerinnen und Bürger" treffen und sie passt in jedes Auge und jedes Ohr: Es geht um unser Leben! Und das sagen uns alle, Joschka und Gerd und Lieschen Müller. Nicht um einen wirklichen Streit geht es also, nicht um Bedingungen des Lebens, um Mächte und Quellen unserer Produktion oder gar den Rechten anderer auf ihre Bodenschätze, ihre Gesellschaft und ihre Zukunft, sondern um die Art und Weise, wie das Leben verläuft und in welcher Form wir uns bedroht fühlen werden, wenn wir das alles glauben.

Natürlich soll das so platt nicht stehen bleiben. Offene Macht wird heutzutage mit freundlichen Zukunftsvisionen für das Wohl des Ganzen tapeziert und so schließt Huntington mit einem frommen Spruch aus den fünfziger Jahren von Lester Pearson, der sich wie aus einer Anarchisten-Fibel liest: Die Menschen sind "auf dem Weg in ,ein Zeitalter, wo unterschiedliche Zivilisationen lernen müssen, nebeneinander in friedlichem Austausch zu leben, voneinander zu lernen, die Geschichte, die Ideale, die Kunst und Kultur des anderen zu studieren, einander gegenseitig das Leben zu bereichern.'"(S.550f) Und er schlußfolgert: "In der heraufziehenden Ära sind Kämpfe zwischen Kulturen die größte Gefahr für den Weltfrieden, und eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg." (S. 551) Wer diese Ordnung bestimmt, das versteht sich ja von selbst, wenn sie gegen die "Achse des Bösen" gerichtet sein soll. So argumentiert der Zynismus der Macht: Wir sind berufen, den Frieden zu stiften, und wir bekämpfen den, der sich gegen unsere Stiftung wendet. Der Weltkrieg könnte also nur deshalb stattfinden, weil er verhindert werden soll.

 

Die Spaltung der Welt

Früher war es die Spaltung der Welt in Ostblock und Westblock, in sozialistische Gesellschaften und kapitalistische. Auch der "Kampf der Systeme" galt schon als "Kampf der Kulturen", strotzte vor Macht, Militär und Kriegsbedrohung. Aber er fand auch noch statt in Gedanken, Ideologien, in der Politik und am ökonomischen Verhandlungstisch. Es war nicht nur ein Kampf, sondern auch Konkurrenz der Gesellschaftsvorstellungen. Jedenfalls war dies aus dem Blickfeld der kapitalistischen Gesellschaften als Frage nach dem rechten Prinzip formuliert: Welche Gesellschaft ist die bessere, welches die erfolgreichere? Aber für was soll sie eigentlich besser sein? Was heißt Erfolg? Nur wenn die Menschen sich ihrer Lebenserzeugung unsicher sind, wenn sie in ihrer Arbeit und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse sich nicht in ihrem Menschsein bestätigt fühlen, können solche Maßstäbe entstehen.

Der Kapitalismus hat "gesiegt", weil der Sozialismus dem weltweiten Kapitalmarkt (besonders durch die Auflösung der amerikanischen Devisendeckung mit Gold) und der zunehmend unerschwinglichen Hochrüstung (die Reagan zum Krieg der Sterne machen wollte) nicht mehr gewachsen war. Zudem waren seine Strukturen und Ideen verödet, der Wahnsinn des Stalinismus nicht überwunden und es war die gesellschaftliche Produktion, die einst das Land der Armut zur Weltmacht gebracht hatte, in der langjährigen bürokratischen und mafiösen Diktatur des sowjetischen Parteiapparats zermürbt, lange bevor dies durch Gorbatschow zum Thema wurde.

Für das Kapital hatte der "sozialistische Gegner" abgewirtschaftet, National und sozial gebundene Märkte wurden frei und politische Einflüsse ließen sich neu bestimmen und ausdehnen. Das hatte den Kapitalismus erst mal unbekümmert triumphieren lassen. Er hatte jetzt die Absatzmärkte der Welt und im Einkauf muss er keinen Konkurrenten fürchten, der ihm die Billigpreise verhageln könnte. Es hat ihn grenzenlos gemacht. Er triumphiert als Prinzip, als "Marktwirtschaft", die der "Planwirtschaft" überlegen sei (wenn es diesen Gegensatz überhaupt so geben sollte).

Deshalb musste der Sozialismus auch geistig abgewirtschaftet werden. Niemand sollte mehr je auf den Gedanken kommen oder davon reden, dass es auch ohne das politische Wirtschaftsdiktat des Kapitals geht. Der Kapitalismus konnte innerhalb der reichen Länder immerhin auch sozial ein geschlossenes Bild bieten: Das Übermaß an Warenangebot und der relative Reichtum durch das Produktivitätswachstum der aufkommenden Automaten-(Computer-) und Kommunikationsindustrie hatte die Klassengegnerschaft entspannt und ließ eine Zusammenarbeit mit dem Management des Kapitals auf nationaler Ebene aufkommen. Der vorübergehende Klassenfriede war betörend. Ideologisch wurde die gesamte Gedankenwelt des Sozialismus in die Ecke des Unmenschlichen gestellt, welcher dem "menschlichen Anliegen" nicht gewachsen sei - eben weil der Kapitalismus eine "dem Menschen nähere Gesellschaftsform" sei, ein "offenes System", das Prinzip der Freiheit bis zur Beliebigkeit, Liberalismus, der sich über die Sachgewalten regelt. Der Kapitalismus will seitdem die gesellschaftliche Form menschlicher Zivilisation schlechthin sein - und damit war alle nicht kapitalisierte Welt implizit zur Unzivilisation erklärt.

Aber diese taugt eben besonders gut auch für die Interessen der Kapitalwirtschaft. Weil die ihren Krisen nur durch neue Märkte und Kostenminimierung von Produktionsmaterialien, Nahrungsmittel und Rohstoffen begegnen kann, erzwingt die Globalisierung den Weltmarkt als Lieferant und Absatzmarkt. Das amerikanische (und mittelbar auch das europäische) Finanzkapital erreicht dies vor allem durch die WTO, einer Welthandelsorganisation, und durch die Weltbank, welche den Devisenhandel und die Währungsstabilität durch Kredit- und Zinspolitik regelt. Sie hat die Devisenabhängigkeit des Weltmarkts vom Dollar erreicht. Seitdem kann das Finanzkapital nicht nur als Kaufmann, sondern zugleich als Notenbank und Währungspolitiker auftreten. Es hat die Welt erobert.

 

Der globale Markt und die Kultur der "Unterzivilisation"

Gegen das Kapital, das als Finanzmarkt um den Globus kreist, gibt es keine Kämpfe mehr. Längst sind die armen Länder in der Entwicklung eigner Lebens- und Arbeitsstrukturen (durch Monokulturismus, Plantagenbau, Landzerstörung, usw.) entkernt und von den reichen Ländern abhängig geworden. Wer nicht mitkann, fällt nicht nur raus; er geht unter. Er benötigt für seine Entwicklung aus der Abhängigkeit gerade die Technologie und Pharmakologie der reichen Länder, die seine Ohnmacht erzeugt haben. Das macht deren Verkaufsangebot und Besitztümer unendlich wertvoll, seine Produkte bescheiden, auch wenn sie gleichermaßen dem Leben dienlich sind. Das Wertverhältnis drückt sich im Geldwert der Länder aus, in den Devisenwerten.

Die Geldwert-Position der armen Länder lassen keine Entwicklung zur Selbständigkeit zu. Als Schuldner bekommt er nur, was er kriegt. Er muss geben, was verlangt ist, um das zu bekommen, was ihn überleben lässt. Durch die daraus folgenden Preisdiktate der Reichen wird ihr Einkauf billig, besonders Grundnahrungsmittel, Rohstoff und Energie, die wichtigsten Faktoren für den Produktionsprozeß. Während z.B. Kaffee- und Chilieinkaufspreise zunehmend unter Wert verkauft werden und die Bauern in den armen Ländern ca. 1$ pro Tag an Lohn erhalten, während indische Bauern ihr ständig teuerer werdendes Saatgut mit der Auszehrung ihres Lebens bezahlen müssen - manchmal bis zum Verkauf ihrer Nieren an Organhändler - wächst in den kapitalisierten Ländern der jedem verfügbare Reichtum an Subsistenzmöglichkeiten bis hin zur Kapitalbeteiligung auf den Finanzmärkten. Während in der einen Welt Kinder als Produktionmittel gezeugt werden um die Familienarbeit zu erweitern und damit eine Überbevölkerung, eine Bevölkerung ohne entsprechende wirtschaftliche Organbildung, entsteht, steigen in der anderen die Aktienwerte der entsprechenden Handelsunternehmen, welche ihre Produkte einkaufen und ihre Bodenschätze zu geringen Kosten schürfen und werden Lebensbedürfnisse geweckt, für deren Befriedigung die Erzeugung und Entwicklung von Kindern eher hinderlich ist. Es sind meist multinationale Konzerne, die das wirtschaftliche Leben dort bestimmen, die auspressen, was rauszuholen ist und zugleich ihre Gewinne transnational horten und bewegen, also ohne Bezug zu den Ländern, die sie nutzen oder denen sie entstammen, ohne Steuer zu bezahlen für das, was sie sozial verbrauchen: die Bereitstellung von Verkehrswegen und Infrastruktur zur Bildung und Erhaltung der Arbeitskräfte. Die Spanne zwischen Arm und Reich wird weltweit immer größer (4).

Die Globalisierung verschärft die Konkurrenz unter den Anbietern und treibt die ehedem schon niedrigen Preise der Arbeit in dem Maße nach unten, wie es immer noch Ärmere gibt, die Schleuderpreise unter dem Selbsterhaltungswert akzeptieren müssen. Und es gibt immer mehr noch Ärmere, weil Armut durch das erzeugt wird, womit sie sich zu retten versucht: Preisdumping. Diesen ungezügelten Marktradikalismus nennt man hier "Liberalisierung der Märkte" (Neoliberalismus). Die permanente Inflation in den Drittweltländern drückt im Geldwertverlust aus, was dem Land an Gütern unter Wert entzogen wird. Allein innerhalb von zwei Monaten im Jahre 1998 hat z.B. Thailand seine Währung um 80% entwerten müssen, weil ihm seine Ressourcen und Güter aus der Geldwertdeckung entnommen werden mussten, nachdem eine geldpolitische Falle der Finanzkapitalisten eine Menge von Devisen außer Landes gebracht hatte. Ganz gewöhnlich und alleine durch ihre Devisenabhängigkeit verursacht, raffen hohe Inflationsraten die Volkswirtschaften der Dritten Welt, Brasilien, Peru, Mexiko, in jüngster Zeit die von Argentinien, dahin. Darin drückt sich aus, was an Warenwert in diesen Ländern fehlt, um den eigenen Geldumlauf zu decken. Er ist durch Exporte verschwunden, deren Wert sich nicht im eigenen Warenkreislauf niederschlägt, ihn also wertloser macht, weil er nicht im Gütereinkauf zurückkommen kann. Unsere Wirtschaftsmacher lehnen sich deshalb auch gerne sehr betont zurück und schütteln den Kopf über die wirtschaftliche Schwäche, die Unfähigkeit, der "unterentwickelten Länder". Derweil kaufen Geldkapitalisten aus Ländern, deren pro-Kopf-Einkommen bei 48.000 $ pro Jahr liegt, in diesen Ländern ein, deren Pro-Kopf-Einkommen bei 3.000 $ pro Jahr liegt (6,25% von 48.000). Das zeigt, in welchem Verhältnis die Sachwerte bezogen werden (das wäre in diesem Fall das 16fache). In der Statistik der Reichen erscheinen demzufolge auch solche Importe als "Peanuts" im Vergleich zum inländischen Warenumsatz. Organisch machen sie aber einen großen Teil der Lebens- und Produktionsstoffe aus. Pro Minute werden auf diese Weise weltweit 100 Millionen Dollar umgesetzt ("Die Globalisierungsfalle, Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand", Martin & Schumann, S.84 ff).

Der Kampf der politischen Systeme mag vorbei sein - und um ihr Konkurrenz konnte es ja wohl auch nicht gehen. Aber der Kampf um die Lebens- und Produktionsbedingungen geht weiter, denn überall gibt es die Ressourcen des Kapitals, die Arbeitskräfte, Bodenschätze und Infrastrukturen, die seinem Verwertungsinteresse und zur Lösung seiner Krisen unterworfen werden sollen. Es ist zu simpel: Der "Zivilisierte" hat eben den Großteil seiner Rohstoffe und Energiequellen im Reich der "Unzivilisation". Und da geht es eben nicht nur um den Markt. Auch die politischen Einflüsse machen den Zugriff hierauf leichter und billiger. Würde der Ölpreis z.B. nur um 10 Dollar pro Barrel steigen, so würde das die "Zivilisierten" ein halbes Prozent ihres Wirschaftswachstums kosten. Sowohl im Golfkrieg wie auch beim Krieg in Afghanistan ging es den "Zivilisatoren" alleine um den Einfluß auf die Öl- und Gasreserven der Welt – nicht auf den unmittelbar gewalttätigen Zugriff von Kolonialmacht auf das Rohöl, sondern auf die "Preisgestaltung", sprich: politisch und militärisch erzwungenes Wohlverhalten. Gut für sie, wenn sie das als gerechten Kampf um ihre Werte ausgeben können - und vielleicht auch manchmal ein Glück für die Bevölkerung, wenn hierdurch die Diktatoren wieder abgelöst werden, die ihnen von der "Zivilisation" zuvor aufgedrängt worden waren. Aber auch wenn deshalb die Besatzer mal als Befreier erscheinen dürfen, es bleibt dennoch alles beim alten.

 

Die Kreuzritter der politischen Kulturen

Jetzt, nach diesem Angriff auf das World-Trade-Center, ist der Propaganda des Welthandels die entscheidende Grundlage geschenkt worden. Endlich kann "unsere Kultur" mal so richtig verteidigt werden. Der Terror war ein "Angriff von Gotteskriegern". Machen wir es ihnen nach; rächen wir uns, auch wenn unser Gott nicht jenseits, sondern diesseits der Erde ist. Unser Gott hat uns ja schon immer weitergebracht und den müssen wir verteidigen: Das Geld und seine Quellen. Diese verrückten Krieger, die noch nicht mal unsere Menschenrechte kennen, weil sie nur noch ihrer Religion hörig sind, müssen niedergemacht werden. Deshalb: Bomben auf das "Land der Terroristen".

Aber was sollen die Bomben auf ein Land, das längst nicht mehr in der Lage ist, das Leben seiner Bewohner zu erhalten, geschweige denn ihre Lebensweise oder Kultur? Es geht hier weder um Kultur noch um den Terrorismus einer kleinen Gruppe gegen eine weltbeherrschende Großmacht. Der Terror des Krieges ist die Sache selbst, um die es geht. Ein gewollter Terror wird mit der Bekämpfung des Terrorismus begründet, weil er sich im Licht der öffentlichen Moral nicht anders begründen ließe. Für den Westen war dieser "Terroreinsatz" längst nötig.

Lange bevor die bürgerlichen Parteien ihr Handeln öffentlich als "Terrorismusbekämpfung" rechtfertigen konnten, waren schon die ökonomischen und machtpolitischen Grenzposten in die Region getrieben worden, in der die Zukunft der Öl- und Gaswirtschaft steckt (vergl. "Die Zukunftregion Kaspisches Meer", Broschüre der SPD-Bundestagsfraktion 1993). Und darum wurde auf den internationalen Konferenzen schon gekämpft, bevor Mann/Frau auf der Straße wußte, wo genau Afghanistan überhaupt liegt und wer die Taliban waren. Und gerade wegen dieses unterschwelligen Kampfes konnte sich dort ein Terrorregime entwickeln. Die Geheimdienste wußten, was nötig ist und Geld, Waffen und sogar Ausbilder für Krieg und Terror wurden eingeflogen.

Auf der anderen Seite dasselbe: Der Finanzkapitalist Bin Laden war ursprünglich der gute Mann für die Sache der USA im Kampf um die Einflusssphäre gegen die Russen. Seine Interessen schienen eindeutig. Als die Russen besiegt waren, hatte er es dann auch für sich begriffen: Geschäfte lassen sich besser machen, wenn man selbst Besitzer von Land und Leuten ist – und Opium ist eine bessere Einnahmequelle als jede Zuwendung der USA sein kann (den Taliban musste von den Bauern 80% der Opiumerlöse abgetreten werden). Für Herrscher ist Isolation und Abgrenzung das wichtigsten Mittel ihrer Politik. Während das afghanische Volk von den Märkten ferngehalten wurde, die es zur Selbsterhaltung hätte nutzen können und deshalb wirtschaftlich und kulturell niederging und darbte, wurden die Taliban zu einer immer mächtiger werdenden Schicht von Militaristen, in der sich die einzelnen Führer Land und Leute aufteilten und beherrschten. Mit der permanenten Züchtigung der Bevölkerung wurden sie gefügig halten und als Gotteskrieger konnte die Taliban den Verrat an ihnen vertuschen.

Wo Elend herrscht, da werden die Menschen furchtsam und hörig, sind für sich haltlos, scharen sich zusammen und hören auf jeden Führer, der ihnen eine Orientierung verspricht. Der Feind wird ihnen erklärt: Es ist die Kulturbedrohung des Westens. Deshalb haben die Taliban ihren Dschihad, die Selbstverteidigung ihres Glaubens als ihren Krieg gegen fremde Kulturherrschaft, ausgerufen und sie glauben daran. Aber auch für sie ist der Begriff des Kulturkampfes ein politisches Werkzeug. Auf andere Länder bezogen dient er als Begriff für einen Krieg, in dem die eigenen Lebensrechte nur noch mit "Gott und Schwert" verteidigen werden können. Auf das eigene Land bezogen ist er ein Begriff für die Bestärkung des inneren Zusammenhalts, Disziplinierung der eigenen Bewegungsfreiheit, Festnahme und Aussonderung des "Nestbeschmutzers".

Kultur taugt politisch immer zur Verschleierung von Machtinteressen, weil ihr Durchsetzungsvermögen auf einer Macht gründet, die sich als Lebensweise ausgibt. Aber sie bewirkt auch Macht. Wenn nicht mehr über existentielle Kräfte und Mächte, sondern über das Lebensrecht gestritten wird, so wird die Sache geistlos, ihre Ideologie absolut: das Menschenrecht wird zur Kulturabgrenzung. Der Kulturbegriff taugt zur Selbstermächtigung.

Was aber macht Kultur so mächtig? Hat sie eine eigene Gewalt, die hier zum Ausbruch kommt? Nein, im Gegenteil: Kultur wird dort gewaltig, wo sie zerstört ist. Ihre Kraft tritt gerade dort in vollem Umfang zu Tage, wo alle Sachverhältnisse und wo wirkliche gesellschaftliche Beziehungen zersetzt sind. Kultur bindet und zwingt und befördert, wo das Leben nicht mehr gelitten werden kann, wo die Lebensstrukturen aus dem Ruder sind und wo die Produktion des eigenen wie fremden Lebens ihren Grund und Boden aufgelöst hat. Dann wird Kultur, die doch nur Lebensinhalt, Sinn von Bedürfnissen und Arbeit, sein kann, zum Machtfaktor ideologisiert, welchem Menschen sich auch jenseits sachlicher Zwecke freiwillig unterordnen oder zwangsweise untergeordnet werden, um dem hervorquellenden Elend zu begegnen. Sie enthält dann die Kräfte ihrer Ohnmacht, die aus Menschen Übermenschen (Führer) macht, aus Rassen Untermenschen und aus Kunst Abartigkeit. Dem Übel soll in der Vernichtung oder Unterwerfung dessen abgeholfen werden, was sich nicht in solche Kraft integrieren läßt. Solche Kräfte machen Menschen zu Mördern und Selbstmörder - nicht nur ihrer ökonomische Existenz wegen, sondern auch gegen sie oder jenseits davon.

Das Negativ von Kultur macht deutlich, was sie positiv ist. Sie ist letztlich die Kraft hinter aller menschlichen Existenz, Inhalt aller Beziehungen und unmittelbare Form ihrer Sinnlichkeit. Und wo die ökonomischen Mechanismen nicht mehr funktionieren, da wird die Kultur aus dieser Kraft heraus zur Rettungsmaschine gegen ein unbegriffenes Krisenmonster aufgebaut. Aber solche technischen und administrierten Rettungsunterfangen zerstören gerade die Kräfte, auf die sie sich beziehen, weil sie für ihr Machtpotential die Gegenwelten erzeugen und nutzen, durch die nichts mehr zu retten ist: Im Kult des eigenen Überlebens, der Überwertigkeiten, der Illusionen, des versprochenen Paradieses. Dass hier Diktaturen entstehen, die zum Teil vom Volk sogar begrüßt werden, ist zwangsläufig. Die "Endlösung" gibt es aber nur in der Selbstzerstörung. Selbst nach Ende des zweiten Weltkrieges waren 68% der Deutschen auch noch ihrem toten Führer ergeben.

Faschismus und Terrorismus sind neuzeitliche politische Gewalten. Sie decken sich bewußtlos mit den Interessen der bestehenden Macht und sind von daher völlig intrumentalisierbar. Auf der Seite der Ohnmacht entspringen sie dem Bedürfnis der Menschen nach einem menschlichen Verhältnis jenseits der vorhandenen Verhältnisse und setzen dieses Bedürfnis zu einem abstrakt allgemeinen Zweck, der sich politisch als Prinzip einer illusionierten Gesellschaft gegen die wirkliche stellt. Wo sie tätig sind, setzen sie sich in diesem abstrakten Bedürfnis gegen die Kultur, deren Not sie angehen wollen und zerstören dem Inhalt nach gerade das, für dessen Erhaltung sie formell eintreten. Auch wenn sie sich der poltischen Form des Kapitalismus entgegenstellen, so haben sie deshalb doch keine andere Begründung als durch ihn selbst, in seiner leeren Negativität, zu der es keine Position mehr gibt. Sie sind die folgenschwersten Resultate des Kapitalverhältnisses und seiner politischen Kultur, weil sie die vollkommene Verkehrung, die Perversioin, von Kultur betreiben, in dem sie die Lebensweise als Maßstab gegen das Leben setzen, Leben beherrschen wollen. Hier wird absolut, was mit der Auffassung von Kultur als Lebensweise schon angelegt ist: Kultur ist keine Form, sie ist der Inhalt des Lebens selbst.

Wolfram Pfreundschuh