Wolfram Pfreundschuh (9.6.06)

 

Die Kultur der Macht - Grundlagen zur Entstehung von Faschismus

Die gesellschaftliche Natur der Menschen

Macht kommt zuerst mal von Machen, ist also das, über was ein Subjekt verfügen kann, das etwas hervorgebracht hat. Haben Menschen ein Wissen erlangt oder Werkzeuge erfunden oder Dinge erzeugt, die ihre Bedürfnisse befriedigen oder die Fähigkeit gebildet, diese weiter zu entwickeln, so haben sie hierdurch eine Macht erworben, die sie zuvor nicht hatten. Sie haben damit einen Gegenstand geschaffen, durch den sie nicht mehr einfach ihren natürlichen Nöten, ihrem Tier-Sein unterworfen sind, sondern sich in eine mächtige Entwicklung gebracht, Naturmacht erworben haben. Diese erweitert die Freiheit ihrer Subjektivität, macht sie selbst zu Subjekten ihres Lebens – und das eben in dem Maß, wie sie damit die Not ihrer unmittelbaren Natur zu überwinden vermögen, die Notwendigkeiten ihres Stoffwechsels reduzieren können oder sogar ganz aufheben, weil sie durch ihren Stoffwechsel keine Not mehr erfahren. Sie entwachsen den Notwendigkeiten der Natur also dadurch, dass sie in einer Gesellschaft leben, in welcher sie nicht nur ihre Not wenden, sondern auch Reichtum für sich und andere schaffen.

Menschliche Gesellschaft beruht auf dieser Naturmacht, durch welche Menschen in ihrem Zusammenwirken als gesellschaftliche Wesen die Elemente der Natur zunehmend ihrem Zweck unterstellen. Durch ihre Art der Verständigung, durch den Austausch ihrer Ideen, Einfälle und Gedanken, lassen sie die Natur zu ihrem Objekt werden – ohne dass sie sich dabei ihrer eigenen Natur entledigen müssten. Im Gegenteil: Sie verwirklichen durch ihre Naturmächtigkeit das, was durch sie selbst nur möglich ist. Die Menschen haben Macht über Naturprozesse, indem sie natürliche Stoffe zu ihrem Zweck zusammenfügen, aus den Elementen etwas hervorbringen, was aus diesen selbst niemals entstehen würde, z.B. indem sie Erz zu eisernen Gerätschaften schmelzen oder Silizium aus Sand gewinnen und zu Computerchips aufbereiten oder anderes mehr. Als Teil der Natur treten sie aus dieser heraus und beziehen diese in ihrem Sinn und Zweck aufeinander, erzeugen ein Ganzes, das nicht mehr unmittelbar natürlich, wohl aber Lebensmittel menschlicher Natur ist. Sie verwirklichen ihre Natur als eine natürliche Gesellschaft von Subjekten, als Subjekte der Natur, die darin ihre Freiheit von ihrer natürlichen Not durch ihre Naturmächtigkeit Stück um Stück voranbringen.

Doch wenn sie die Gegenstände ihrer Macht nicht so einsetzen, dass es ihrem Leben dienlich ist, wenn sie z.B. ihre Natur denaturieren, dann erzeugen sie damit das genaue Gegenteil ihrer Naturmacht, nämlich Ohnmacht gegenüber ihrer eigenen Natur. Wenn sie sich gewalttätig gegen die Natur verhalten, so tun sie ihrer eigenen Natur Gewalt an, so vollstrecken sie ihren Niedergang als menschliche Subjekte. Wenn sie ihren Müll zur Naturbelastung werden lassen, Naturzusammenhänge schaffen, die Natur zerstören, oder ihr Streben auf deren finale Ausbeutung und Unterwerfung konzentriert ist, dann richtet sich ihre Macht gegen sie selbst.

 

Gesellschaftliche Macht und Gewalt

Trotz dem unermesslichen Reichtum an Lebensmittel, Produktionsmittel und Wissen, den unsere Gesellschaft objektiv hat, ist sie noch nicht dazu gekommen, ihre Naturmacht als menschliche Natur zu vergesellschaften. Die Gewalt über Mensch und Natur bestimmt immer noch die Geschichte, worin die Gesellschaft ihre Naturmächtigkeit als menschliche Gesellschaft noch nicht erreicht hat. Die ganze bisherige Geschichte war immer die Geschichte gesellschaftlicher Gewalt, die Geschichte eines Machtkampfes unter den Menschen um die Verteilung ihrer Naturmächtigkeit, der Streit um das Nötige, die Beherrschung der Arbeit. Und so ist es auch heute noch. Wir sind es deshalb gewohnt, Macht mit Gewalt gleichzusetzen. Es entspricht eben unsrer Alltagserfahrung, dass Macht nicht als Bestärkung des Lebens über das Notwendige existiert, sondern zur Erzeugung von Unterwerfung, Knechtschaft und Ausbeutung des Lebendigen durch das Tote.

Macht kommt von Machen und Gewalt kommt von Walten. Das ist zweierlei, das eine die Tat, das andere die Welt. Erstres gestaltet, was das Leben ausmacht, letztres verfügt über das, was hiervon da ist. Erstres entspringt eigentümlicher Subjektivität, letztres dem objektives Vermögen hierüber, dem Besitz über solches Eigentum. Macht entsteht eigentlich nicht aus der Welt mächtiger Sachwalter, die da walten und Gewalt ausüben, sondern aus der Subjektivität der Menschen, die ihr Leben äußern und hierfür die Gegenstände ihrer Lebensvermittlung schaffen. Aber diese Lebensäußerung wird immer noch von denen vernutzt, die darüber gesellschaftliche Gewalt erlangt haben, die Inhaber von politischer Gewalt und Kapital. Die Bürger dieser Gesellschaft sehen daher die Macht als die Selbstverständlichkeit einer gemachten Welt an und erschrecken zugleich hie und da vor der Gewalt der Mächtigen, die nichts anderes tun, als was ihre Macht verlangt. Gewalt ist eben nicht einfaches Walten oder verwalten, sondern eine waltende Verfremdung von Macht, die mächtige Durchsetzung eines politischen Willens mit Mitteln, welche nur der Gewalttätige besitzt und welche den anderen ohnmächtig machen.

Kultur entspringt der Naturmächtigkeit der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft und besteht aus dem, was sie damit an Reichtum und Verhältnissen geschaffen haben. Kultur ist der Sinn, den eine Gesellschaft für die Menschen hat, der Sinn ihres Reichtums. Und soweit dieser immer noch eine den Menschen fremde Form als Gewalt enthält, ist sie tatsächlich auch eine Kultur der Verfremdung. Es ist eine Kultur, in welcher dieser Reichtum nicht nur allgemein menschliche Macht darstellt, sondern zugleich menschliche Ohnmacht, Reichtum, der die Macht der Mächtigen bestärkt und die Armut der Ohnmächtigen vertieft. Die gesellschaftliche Form dieses Reichtums, seine formelle Allgemeinheit, steht noch fremd zu ihrem Inhalt und widerspricht dieser. Wiewohl die einzelnen Menschen diese Macht durch ihre Tätigkeit hervorbringen, bewirkt diese zugleich ihre gesellschaftliche Ohnmacht, bereichert sie die Gewalt gegen sich. Sie erzeugen und befördern damit die Gewalt einer ihnen fremden Allgemeinheit, die ihre Existenz bestimmt und über diese verfügt. In dieser Form entwickeln sich die Inhalte, welche die Menschen einbringen, als Form ihrer Selbstentfremdung, als Doppelform ihrer Lebensvermittlung - für sie als privat existierende Individuen und gegen sie als gesellschaftliche Gewalt, die sie abhängig und ohnmächtig macht. Nicht nur ihre gesellschaftlichen Beziehungen sind davon ergriffen, sondern auch das gesellschaftliche Mehrprodukt, der Reichtum, der über die gesellschaftliche Reproduktion hinausweist, gesellschaftliche Entwicklung ausmacht, Grundlage ihres Wachstums und Werdens.

So herrscht gesellschaftliche Macht als existenzielle Macht eines Wachstums, welches aus dem Mehrprodukt entspringt, sich aber als Mehrwert gegen die Menschen richtet, indem es dessen Geldform kapitalisiert. Dieses wird zu einer gesellschaftlichen Gewalt des Kapitals, in welche der Ertrag aus dem eingeht, was die Menschen erzeugt haben. So formalisiert sich in dieser Existenzmacht der gesellschaftliche Inhalt ihrer eigenen Tätigkeit und ihr konkretes Zusammenwirken geht darin unter. Es ist dies eine gesellschaftliche Macht, die nur als gesellschaftliche Gewalt auf die Menschen zurückkommt. Aber als dieses ist es noch keine Kultur und es wäre hierbei noch unangebracht, von einer Kultur der Macht zu reden.

Zu einer solchen wird eine wirtschaftliche Form erst, wenn sie politische Selbständigkeit hat, wenn sie die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens, also menschliche Kultur überhaupt, die Zwischenmenschlichkeit selbst zu beherrschen versteht. Und das erscheint vom Standpunkt der Systemverwalter und ihrer Gläubiger vor allem dann von Nöten, wenn die Wirtschaft dem Inhalt nach versagt und sie dies der Form nach auszugleichen versuchen, indem sie die Staatsgewalt hiernach bestimmen. Wenn sich eine wirtschaftliche Krise als unlösbar erweist und die Menschen dennoch zu ihrem Systemerhalt gezwungen werden sollen, dann geht das nur durch eine politische Verwaltungsmacht, die ihr persönliches und privates Menschseins in wirtschaftlicher Zwecksetzung zu beherrschen versteht. Es werden dann den Menschen Bewertungen vermittelt, die ein Opfer an das Gemeinwohl abverlangen, auch wenn es nur das Wohl der Geldverhältnisse betrifft.

Dann herrscht im Allgemeinen, also vor allem staatlicherseits, ein Machtbedarf an Kultur, die zum Mittel des Selbsterhalts erkohren wird. Das letzte den Menschen noch verbliebene gesellschaftliche Wesen, ihr kulturelles Wesen, wird ihnen dann veräußerlicht zu einem allgemeinen Willen, den der Staat als Agent des Allgemeinwillens ihnen vorhält. Wenn ihm das vermittelst seiner Einrichtungen, seiner Institutionen gelingt, so erzeugt er damit kulturelle Gewalt, Kulturherrschaft.

Die gab es allerdings auch immer schon, - meist, wenn die Menschen zur Kultur zusammen gezwungen wurden, um ihre Natur zu überwinden, z.B. in den Naturreligionen oder auch zur Begründung der Sklavenhaltergesellschaft oder des Feudalismus. Da wurden die Gottheiten beschwört, durch die eine bestimmte Klasse ihrer Gesellschaft als Träger gesellschaftlicher Gewalt gelten sollte. Ihre Macht hatte sich aus der Ohnmacht der Menschen gegenüber den Naturgewalten begründet, der Furcht, die sie damit den Gottheiten zollten, weil sie eben noch nicht oder nicht mehr so naturmächtig waren, wie es für den gesellschaftlichen Erhalt nötig war. Heute denken wir zwar eher an alte, vielleicht an feudale Gesellschaften, wenn wir diesen Begriff hören, aber Kulturmacht gab es bis in die jüngste Geschichte hinein.

Die jüngste Kultur der Macht war der Kulturstaat, der Staat, in welchem Kultur als notwendige gesellschaftliche Gewalt vorgestellt wurde: der Faschismus, ganz besonders der deutsche. Darin ist alles auf den Kopf gestellt, was Kultur ausmacht, weil sie hier zur Zwangskultur der Politik geworden ist, politische Kultur an sich.

 

Der Krisenprozess der bürgerlichen Gesellschaft

Wir hatten festgestellt, dass Faschismus auf der reaktionären Verarbeitung einer ökonomischen Krise und dem damit verbundenen sozialen und kulturellen Selbstzerstörungsprozess gründet. Durch die Bezichtigung der Menschen wird hierdurch eine gesellschaftliche Fortentwicklung verstellt. So bleibt die Geschichte in einem gesellschaftlichen Vakuum stecken, in welchem die sozialen Zusammenhänge immer ohnmächtiger werden und im schwarzen Loch des Kapitals vergehen. Von der Kultur her ist der Faschismus so etwas wie eine Untergangskultur, welche ihre menschliche Nichtigkeit politisch zu einem Mittel der Macht zu wenden trachtet, und also selbst zur Macht sozialer Nichtigkeit werden muss, zu einem Staat kultureller Allmachtsfantasien, zu einem Kulturstaat. Von daher agiert faschistische Staatsmacht immer zuerst als Kulturmacht, als moralische Instanz des Brauchtums, der Sitten und Gepflogenheiten, als Herrschaft der rechten Gesinnung und Ordnung.

Die Frage, die durch eine ökonomisch unauflösbare Krise an das kapitalistische System gestellt ist, wäre die Frage nach dem Grund dieser systematischen Unlösbarkeit und es könnte hiernach der wesentliche historische Mangel des Kapitalismus aufgeklärt und eine entsprechend nötige Gesellschaftsänderung erarbeitet werden. Dies aber verlangt die Überführung der im Kapital abgetöteten Lebensverhältnisse zum Lebensverhältnis einer fortschrittlichen entkapitalisierten Gesellschaft. Der bürgerliche Staat wird aber gerade im Krisenfall besonders verschlagen und wendet sich gegen seine Bevölkerung, deren Selbstaufopferung ihm als einziges Mittel der Krisenbewältigung erscheint und die er deshalb als Überlebensfrage aufwirft. Carl Amery hat das die Hitler-Formel genannt. Hiernach wird die Frage schon als Behauptung aufgelöst, dass das Überleben der Menschheit nur noch durch eine Elite möglich sei, welche in die Lage versetzt werden müsse, die Bedürfnisse und Gesinnungen der Bevölkerung zu kontrollieren und zu bestimmen. Von daher geht es dann staatlicherseits um eine Selektion der Menschen. Es ist dies die Grundlage der Rassentheorie und eines politisch opportunen Rassismus, der mit allerlei Kulturbefindlichkeiten aufgefüllt wird.

Obwohl Faschismus alles andere als Kultur ist, so verwirklicht er sich doch gerade nur durch eine politische Kultur der Beherrschung und Vernichtung, die sich als Heil einer höheren Ordnung gibt, als Erlösungsprinzip, dem sich die Menschen zu unterwerfen hätten, um sich dem Unheil zu entziehen. Faschismus entsteht von daher auch zuerst in der Kultur durch die Dämonisierung des Fremden, des Unangepassten und Unartigen, das zum Abartigen gemacht wird, durch Ressentiment, das die Vorurteile der Sitten und Gebräuche aufgreift, und sich hiermit durch Propaganda und Medien als deren Bewahrer allgemein aufbaut, als Träger eines abstrakt vorgestellten Gemeinwesens, das vor allem das zu sichern und zu regenerieren verspricht, was einer unbegreifbaren Macht zum Opfer gefallen ist, einem Dämon des Bösen, der nurmehr durch die Macht eines allgemeinen Willens beherrschbar sein soll.

Somit wird die Grundlage der Zeitgeschichte, der ökonomische Zerfall des Kapitalismus, gewendet in einen Kulturkonflikt, in welchem die Macht des Guten gegen die Kräfte der Zerstörung, gegen die “unsichtbare Hand“ einer Fremdherrschaft gestellt werden. Es wird aus den Phänomenen der gesellschaftlichen Ohnmacht ein einzigartiges Kulturphänomen der Macht des Guten. Darin verschwinden alle wirklichen Nöte, welche diese Ohnmacht erzeugen. Und gerade hierdurch wird die Armut der Menschen mit der seltsamen Hoheit einer Heilsagentur versehen, einem Genesungswerk des guten Willens.

Derweil funktioniert das Kapital wie eh und je und erholt sich vorübergehend durch die Selbstausbeutung, zu welcher die Menschen mittelst dieses gut bürgerlichen Gesinnungsterrors des allgemeinen Willens bereit gemacht werden. Wir stehen heute vor den Problemen des Kapitalismus, vor allem der Krisenabwehr durch eine internationale Fussionierung des Kapitals, totaler denn je – und zwar in einem Verhältnis, worin uns immer mehr Geld durch Mieten, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationskosten abverlangt und relativ hierzu immer weniger für unsere Arbeit erstattet wird. Das Verhältnis von Arbeit und Reproduktion gerät ins Wanken. Arbeit wird unterwertig, nur damit ein hiervon abgetrenntes, ein völlig abstraktes und spekulatives Wertwachstum noch funktionieren kann. Und dies ist nur möglich, weil und sofern die letztlichen Verfügungsmittel des Kapitals, Grund und Boden und Bodenschätze und Luft und Energie keine Produkte von Arbeit sind, bzw. nur zu einem geringfügigen Anteil Arbeit nötig haben, sondern vor allem als purer Besitzstand, als politische Macht des Besitzes fungieren. Solange diese Macht noch in der Lage ist, Gelder aus dem Produktionsbereich abzupressen, soweit werden die Menschen zum äußersten Opfer getrieben, und sei es die Selbstaufopferung als Soldat in den Weltordnungskriegen.

 

Die soziale Ödnis - Nichtigkeit und Vernichtung

Wesentlich ändert sich nichts an den gesellschaftlichen Verhältnissen, wenn Kriege ihre seltsame „Ordnung“, sprich: Die Willkür der Gewalt, betreiben. Zwar beschäftigen die Waffenkonzerne, wenn man auf einen solchen Zynismus mal eingehen will. Viele Menschen und auch spekulatives Kapital findet darin auch für eine Zeit lang „erfolgreiche“ Anwendung, weil es für das Kapital nichts besseres gibt, als die Zerstörung von Lebensstrukturen und deren Neuaufbau. Aber insgesamt bleibt doch das Problem, wie es war: Die Arbeitslosigkeit grassiert und lässt sich nicht mehr grundsätzlich eindämmen, weil die Masse des Kapitals einen Umsatz verlangt, der nicht mehr vollständig durch entlohnte Arbeit zu erbringen ist. Die Staatskasse entleert sich durch Ausgaben für den Selbsterhalt und für Zinserstattungen. Die Staaten sind kurz vor dem Bankrott und das internationale Kapital boomt – aber eben das Kapital, das nicht mehr selbst investiert, sondern vor allem Wertunterschiede auf den Devisenmärkten abschöpft, d.h. die Not armer Länder verwertet. Es bestimmt inzwischen fast alle Infrastrukturen der Welt.

Derweil sind die Menschen immer ohnmächtiger, soziale Ödnis und finstere Zukunftsvorstellungen breiten sich aus. Gewaltprobleme auf den Straßen und in den Klassenzimmern gehören zum Alltag. Die Menschen sind auf sich als vereinzelte Einzelwesen verwiesen, die zu einer Masse von isolierten Existenzen aufgeschwemmt wurde. Jeder darin ist dazu verdammt, um genau jenen Zipfel eines Lebens zu kämpfen, der ihm noch in Aussicht gestellt wird. Durch Rassismus und Randale scheint wenigstens der Selbstwert wieder hergestellt. Die Sinnentleerung ihrer Lebenszusammenhänge lässt eine grenzenlose Sucht nach irgendeiner Erfüllung im Konsum entstehen. Die Angebote hierfür scheinen unendlich zu sein, soweit das Geld noch aufgebracht werden kann. Aber weil wenig da ist, gibt es auch Erschwingliches. Der Markt gehorcht der Masse und die Masse gehorcht dem Markt, und nur an Masse ist das Kapital interessiert, egal zu welchem Preis. Es bekommt immer die Arbeit, solange die Arbeitskraft ihre Existenz und Ernährung durch es sichern muss, selbst wenn sie arbeitslos ist – und es bekommt immer soviel Arbeit, wie es nötig hat. So erfüllt sich das Tittytainment, der billige Massenkonsum, wie ihn schon 1994 die Manager auf jenem berühmt gewordenen Kongress in San Franzisko als Zukunftsperspektive des Kapitals erhofft hatten, um ihren eigenen Eliten zu einer dauerhaften Macht zu verhelfen.

Man hat sich damit nicht nur abgefunden, sondern befriedet seinen gesellschaftlichen Unmut durch eine Welt voller Unterhaltung und Erlebnishaftigkeit. Jeder Einkaufsbummel wird zum Event, die Disko zur Identitätsstifterin, Computerspiele zum Ersatz für zwischenmenschliche Kommunikation, eine Fußballweltmeisterschaft zum nationalen Hoffnungsträger höchster Güte. Die Unterhaltungselektronik boomt und die Menschen sind danach fast ebenso süchtig, wie das Kapital nach Geld süchtig ist. Nur: Wirkliche Erfüllung erbringt dies alles nicht mehr. Alles verbelibt aufgehoben in einem endlosen Kulturkonsum. Die Menschen ahnen oder wissen das, aber die Barrieren davor, hierüber nachzudenken, sind hoch angesetzt, vor allem auf dem schier unüberschaubaren Niveau des Weltmarktes.

 

Die Dramaturgie eines gesellschaftlichen Dämons

Die Ödnis einer Gesellschaft, die in der Unterhaltung ihre Parallelwelt gefunden hat, drückt sich aus in einer gewaltigen kulturellen Depression, die eine ebenso gewaltige Aggression von rechts befürchten lässt. Reaktionäres Bewusstsein besteht ja vorwiegend aus der Personifizierung gesellschaftlicher Phänomene, aus der Phänomenologisierung der gesellschaftlichen Widersprüche zu einem Bildnis der Moral, zum eidetischen Kern der persönlichen Selbstermächtigung, der mächtigen Beziehung des Guten zum Schlechten, das dann auch gleich das Böse ist. Das geht zunächst sehr verständnisvoll ab. Wir hatten jüngst darüber jene Betulichkeit der Medien erfahren, die uns persönlich ansprachen mit: Du bist Deutschland. Und sie haben eines gut getroffen: Sie beanspruchen den Stolz eines selbstgefühligen Siegers gegen die Gefühle des Verlierers. So soll ungenießbare Wirklichkeit wenigstens auf der Ebene der Selbstgefühle ein neues Verhältnis zur Gegenwartskultur gründen. Du bist Deutschland, du lebst im Land der Dichter und Denker und Weltmeister, also mach was draus.

Im Grunde trifft das ja auch das Gefühl der Menschen, die nicht mehr wahrnehmen, was sie wahrhaben und vor allem wahrhaben, was sie wahrnehmen, sich rund 4 Stunden pro Tag mit dem verfüllen, was ihnen der TV-Bildschirm vorstellt, die Tabellensieger der Sportereignisse an Geschichte einbringen oder das Glücksrad der Ratespiele ihnen an Erfüllungssehnsucht befriedigen. Aber sie wollen auch endlich wieder selbst wer sein. Und sie können das zumindest als Gegenstand der Wahrnehmung, als schmucker Körper oder durch die geile Erlebnishaftigkeit ihrer Selbstdarstellung. Die Moderatoren der Medien werden hierfür zum Lebenshelfer und es gibt fast nichts, was hierfür nicht taugen könnte, und sei auch nur der Ulk einer Haarfarbe: Blond am Freitag. Auf Blödheit kann man sogar stolz sein, wenn sie unterhaltsam ist.

Aber immerhin betreibt sie die Isolation der Wahrnehmung zum Event des Erlebens. Dieses erbringt das tragende Selbstgefühl einer Konsumästhetik, die sich vor allem durch die mediale Macht der Verdummung auch allmächtig fühlen kann. Aber darin verflüchtigt sich vor allem alle Begeisterung. Und wo die vergeht, vergeht auch das Geistige schlechthin, ist jeder Sinn von Sinnen. Schließlich wird darin der Körper selbst zum Gegenstand des Konsums, Körperlichkeit zur Kultform eines Selbsterlebens, zum Körperkult des Selbstgefühls, zur Dramaturgie erregender Aufreizung, die dort endet, wo sie anfängt. Die Selbstwahrnehmung ist der Zirkelschluss einer Geschichte die nichts ist und auch nichts anderes werden kann, als ein Gefühl für Macht und Kult, für die Ästhetik des besonders allgemeinen, der besonderten Verallgemeinerung: Ohnmacht, die sich mächtig geben darf.

Die Kultur der Macht ist heute zu einer Machtkultur der Selbstwahrnehmung geworden, zu einer kultiviert scheinenden Selbstgerechtigkeit auch im Umgang mit anderen Kulturen durch deren Dämonisierung. Dass wir darin geistig verarmen, ist vielleicht noch nicht so deutlich. Deutlich aber ist schon der Anspruch auf Weltherrschaft, auf die Machtkultur der westlichen Welt. Die Kultur der Macht besteht heute aus einer ungeheuerlichen Selbstüberhebung eigener Gewohnheiten, die sich in der Selbstkultivation gegen den Rest der Welt auszubreiten sucht und die jede Auseinandersetzung mit einem anderen Sein und damit auch die Chance eines Andersseins, die Möglichkeit einer Veränderung und Geschichte, aufhebt. Und das vernichtet genau das, was die Kultur der Menschen ausmacht: Die Begeisterung, die Liebe und Leidenschaft, mit der sie aufeinander eingehen und die sie für die Dinge ihres Lebens verspüren. Damit hat sich die Wirklichkeit des Kapitalismus verändert; sie ist über das Verhältnis der Lebensmittel und Lebensvermittlung, der Produktion und Reproduktion des Lebens hinausgewachsen. Als Kulturmacht dringt das Kapital in das menschliche Leben selbst vor und wird damit unmittelbar lebensbestimmend. Nur wer ihm noch seine Stimme gibt, wird dabei an der Kulturmacht des Kapitals teilhaben – und das werden immer weniger sein, die Wenigen aber dafür immer mächtiger.

 

Wolfram Pfreundschuh