Globalisierung und die Krise des Sozialstaats

(aus isw - Forschungshefte 1, 01/2003)

von Leo Mayer und Fred Schmid

 

Wieder einmal wird die kapitalistische Wirtschaft von einer Krise erfasst. Aber ganz offensichtlich handelt es sich gegenwärtig um mehr als um eine der "klassischen" zyklischen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft. Unsicherheit, Armut und Arbeitslosigkeit haben globalen Charakter angendmmen. Wir erleben den erneuerten Zyklus von Krise, Krieg und Terrorismus und den Übergang zu autoritären Herrschaftsformen. Die Pleite des US-Energieriesen Enron, groß geworden im Gefolge von Deregulierung und Privatisierung und Synonym für das Zusammenspiel von Politik, Börse, Banken und Wirtschaftsprüfern sowie der Zusammenbruch Argentiniens, dem Musterschüler des IWF, stehen geradezu symbolhaft für den krisenhaften Zustand der Weltwirtschaft. Stellt man gleichzeitig in Rechnung, dass sich in einer wachsenden Zahl von Ländern der Kampf der Arbeiterbewegung wieder belebt und sich mit dern Aufbruch einer neuen sozialen Bewegung vermischt, dann kann man zu Recht davon sprechen, dass das Konzept der kapitalistischen Modernisierung insgesamt, d.h. die kapitalistische Globalisierung in eine Krise geraten ist. Die durch die Globalisierung hervorgdrufenen gesellschaftlichen Verwüstungen rücken zunehmend in den Vordergrund der Debatte.

Ernst Ulrich von Weizsäcker sagte als Vorsitzender der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, dass heute internationale Firmen weitgehend diktieren, wie der Staat sich zu benehmen habe. Er sieht zwar in der Globalisierung auch Vorteile wie Warenvielfalt und Preisstabilität, benannte jedoch die negativen Folgen, nämlich zunehmende Armut und die Benachteiligung von Frauen, "bedrückend'. Weizsäcker warnte vor der wachsenden, unkontrollierten Macht der Multis und rief auf: "Wir müssen die Demokratie neu erfinden".

"Globalisierung der Armut" titelt der kanadische Ökonom Michel Chossudovsky sein Buch über die Folgen der kapitalistischen Globalisierung. Denn sie "führt zur Verarmung der Menschheit und zur Zerstörung der Natur. Sie erzeugt soziale Apartheid, befördert Rassismus und ethnische Streitigkeiten, unterhöhlt die Rechte der Frauen und stürzt Länder in zerstörerische Konfrontationen zwischen verschiedenen Nationalitäten. Sie beeinträchtigt die nationale Souveränität und die Rechte der Büfger. Unveräußerliche 'Rechte' sind an die weltgrößten Banken und multinationalen Konglomerate übertragen worden, die öffentlichen Schulden sind explodiert, staatliche Institutionen zusammengebrochen, der Wohlfahrtsstaat ist in den meisten westlichen Ländern zerstört, während der private Reichtum wächst.”

Globalisierung - Mythos und Realität

Als der Begriff der Globalisierung Mitte der 80er Jahre das erste Mal auftauchte, war er noch positiv belegt und brachte in kürzester Zeit eine wahre Blüte unterschiedlichster Konzeptionen, Sichtweisen und Erklärungsmuster hervor. Schon der Begriff legt die Vorstellung wirklicher Globalität und den Mythos des 'gIobalen Dorfes' nahe. Die Realität jedoch verweist die von der Weltbank und den neoliberalen "Dienstleistungs-Intellektuellen" vertretene These von der zunehmenden Konvergenz zwischen Nord und Süd in das Reich der Fabeln, denn im 'gIobalen Dorf' herrscht die "giobale Apartheid", wie es Nitin Desai, Konferenz-Generalsekretär auf dem UNO-Gipfel in Johannesburg, formulierte. In diesem "Welt-Dorf" lebe "eine menschliche Gesellschaft, gfündend auf Armut für viele und Reichtum für wenige, gekennzeichnet durch Inseln des Wohlstands, umgeben von einem Meer der Armut", sagte Südafrikas Präsident Thabo Mbeki. Während die Metropolen und die angeschlossenen Produktionsinseln der kapitalistischen Peripherie mit Glasfaserkabein vernetzt sind und die x-te Generation von Handys und Computern produziert wird, haben zwei Drittel der Menschheit noch nie einen Telefonhörer abgehoben und weit mehr als 90 Prozent noch nie ein Bild oder einen Text aus dem Internet gesehen. Während auf den Märkten der entwickelten Industrieländer die Wellness-Branche und die Schönheitsmedizin boomen, vergrößert sich in den unterentwickelten Ländern die Zahl der Kranken, die sich niemals ein Medikament werden leisten können, immer schneller. Die globale Verelenduhg hat ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht: 1,2 Milliarden Menschen, ein Fünftel der Menschheit, müssen von einem Dollar pro Tag leben und sind zu einem Leben in extremer Armut verurteilt. Die Kluft wird größer, nicht kleiner. 1,6 Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern leben heute schlechter als vor 15 Jahren. Die zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern begtehende Einkommensdifferenz, die 1960 das 37fache betrug, beträgt heute das 74fache. Vier Bürger der USA - Bill Gates, Paul Allen, Warren Buffet und Larry Eilyson - konzentrieren in ihren Händen ein Vermögen, das dem Bruttoinlandsprodukt von 42 armen Ländern mit 600 Millionen Einwohnern gleichkommt. Das Vermögen der 385 reichsten Personen übersteigt das Jahreseinkommen der ärmsten 2,5 Milliarden Menschen, also fast der Hälfte der Weltbevölkerung. In ihrer heutigen neoliberalen Form wurde die Globalisierung zu einem furchtbaren Alptraum für Millionen von Menschen: für die Opfer der Massenarbeitslosigkeit, für die in ungeschützte Arbeitsverhältnisse Abgedrängten, die sozial Ausge-grenzten oder die Armen trotz Arbeit. Wer zählt die Opfer der neoliberalen Strukturanpassungspolitik, die im Süden zu ungeheurer Armut geführt hat und die sich im Norden als Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen auswirkt?

Als Märchen hat sich auch die These vom Verschwinden des Nationalstaates erwiesen. Die Zahl der Staaten hat zugenömmen; nationalistische Sezessionsbewegungen breiten sich aus. Aber ebenso offensichtlich vollzieht sich ein tiefgehender Wandel in der Funktion'der Natibnalstaaten, der mit Verlust von wirtschaftlicher und sozialer Regulierungsfähigkeit und dem Abbau demokratischer Rechte verbunden ist. Die dominierenden Staaten werden unter der Hegemonie der USA aufgeWertet, währencl die schwächeren Nationalstaaten ihre nationale Souveränität verlieren und sogar aufgelöst werden. Die mächtigen Staaten, allen voran die USA, ersetzen das Völkerrecht dürch ihr "Recht auf Intervention" und einen neuen Kolonialismus.

Oft wird so getan, als sei die Globalisierung wie eine Naturkatastrophe über die Menschheit hereingebrochen. Dies trifft ebenso wenig zu, wie die These, dass es sich um ein gänzlich neues Phänomen handelt. Schon das Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise war untrennbar mit der Herausbildung des Weltmarkts verbunden. "Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals" schreibt Karl Marx. (3) In seiner weiteren Entwicklung werde sich dieser internationale Charakter weiter entfalten und es komme zu "neuen weltmarktlichen Beziehungen, welche die große Industrie schafft"(4), denn der Weltmarkt bildet "die Basis und Lebensatmosphäre der kapitalistischen Produktionsweise"(5), schrieb der Ökonom und Philosoph aus Trier schon im Jahr 1860. Gegenwärtig können wir erleben, dass sich dieser Internationalisierungsprozess nicht kontinuierlich, sondern in Schüben und Sprüngen vollzieht.

So sehr sich die Globalisierung also als Feld der Mythenbildung erweist, so falsch wäre es, die realen Prozesse zu ignorieren. Die im 'Kommunistischen Manifest' vorhersehend beschriebene Vollendung des kapitalistischen Weltmarktes, wonach sich "Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet,6 wird heute - getrieben von den transnationalen Konzernen, internationalen Institutionen unci der Staatengruppe der G-7 - unter dem Begriff "Globalisierung" täglich mehr zur Realität.

Im Zuge der Globalisierung verändert sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Welche Maßnahme des Sozialabbaus und der Lohnsenkung, welches Steuergeschenk an die Reichen und Konzerne, welches antidemokratische Gesetz, das nicht mit den Zwängen der Globalisierung begründet würde. Seit zwei Jahrzehnten stagnieren in den meisten Industrieländern die Masseneinkommen und werden die abhängig Beschäftigten von der Teilhabe an den ökonomischen Zuwächsen ausgeschlossen. Schritt für Schritt werden erkämpfte Zugeständnisse zurückgenommen und das "Soziale Netz” ausgedünnt. Soziale Risiken werden privatisiert und der Arbeitsmarkt dereguliert. Inmitten der Reichtumszentren entstehen wachsende "Drittweltsektoren".

Das "Phantom" der Globalisierung

In der Linken und in den Gewerkschaften wollten viele die neue Entwicklung lange nicht wahrhaben. So warnte Detlef Hensche zwar zu Recht vor der "Globalisierungshysterie", weil diesb die Sicht verneble und die Gewerkschaften lährne. Aber seine Aussage, dass zwar die Finanzmärkte global sind, "die Arilage von Produktionskapital folgt dagegen anderen Gesetzen; auch morgen noch. Produktionsstätten sind bodenständig. ... Das Gespenst der Globalisierung erweist sich so realitätsverbunden wie das Gespenst im Kohlenkeller" (7) ist nicht erst seit heute widerlegt. Auch für Ulrich Dolata war 'die Formel von der Globalisierung der Wirtschaft ebenso prägnant wie irreführend', clenn mit Ausnahme der Chemieindustrie "präsentiert sich die deutsche Internationalisierung über weite Strecken als wenig spektakuläre und keineswegs sprunghafte Europäisierung des Handels und der Produktion.'

An sie gewandt schrieb Helmut Schauer, Tarifabteilung der IG Metall: Wanche wollen den Entwicklungsbruch noch nicht wahrhaben, Sie halten sich nach einem Vierteljahrhundert des Epochenwechsels noch an rückwärts gewandte Zeitbegriffe wie der einer postfordistischen oder postkeynesianischen Entwicklungsphase. Sie sind noch nicht so ganz in der Gegenwart angekommen".(9) Er stimmte darin mit Revelli überein: 'Die Linke hat die neue Epoche kapitalistischer Entwicklung in den letzten Jahren verschlafen."

Inzwischen stellt die Realität der Globalisierung kaum noch jemand in Frage. Millionen Globalisie-rungskritiker von Seattle bis Genua, von Porto Alegre bis ' Florenz jagen nicht einem "Phantom" hinterher, sondern kämpfen gegen die zerstörerischen Auswirkungen der kapitalistischen Globali-sierung. Mittlerweile herrscht weitgehende Einigkeit, dass die Globalisierung ein vieldimensionaler Vorgang ist, der das Leben und Arbeiten der Menschen ebenso berührt wie er die ökologische Zerstörung des Planeten und kulturimperialistische Erscheinungen einschließt. Spätestens seit US-Präsident Bush den Ianganhaltenden "Krieg gegen den Terror" begonnen hat, stellen sich neoliberale Globalisierung und Krieg als die zwei Seiten der gleichen Medaille dar. Doch wenn es um die ökonomische Triebfeder des Prozesses geht, unterscheiden sich die Sichtweisen. Umstritten ist nach wie vor, ob sich mit der Globalisierung eine neue Qualität der Internationalisierung des Kapitals verbindet und woran diese festzumachen sei.

Karl Georg Zinn, Wirtschaftswissenschaftler an der Technischen Hochschule Aachen sieht die Globalisierung durch zwei Komponenten charakterisiert: zum einen durch die seit langem laufende Expansion der außenwirtschaftlichen Verflechtung der Volkswirtschaften - die also nichts Neues darstellt, - und zum zweiten durch die "irrsinnige Ausweitung der spekulativen Finanztransaktionen". Da diese aber erst dadurch möglich wurde, weil die Regierungen die sinnvollen Regulierungen und Kontrollen auf den Finanzmärkten abgebaut haben, spricht er denn auch nicht einfach von "Globalisierung", sondern wie der jüngst verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu von der Tolitik der Globalisierung". (10)

Jörg Huffschmid konstatiert zwar, dass die außenwirtschaftliche 'Verflechtung über Handel und Direktinvestitionen im Laufe der letzten 20 Jahre zugenommen hat, allerdings sei dies für die großen Zentren der Weltwirtschaft immer noch von vergleichsweise geringem Gewicht. Da sie zudem vorwiegend und zunehmend innerhalb der kapitalistischen Zentren Westeuropa, Nordamerika und Südostasien" stattfinde, führe dieser Prozess "zu einer regionalen Blockbildung". Er vermutet, dass "eine weiträumige Produktionsvernetzung vorwiegend auf wenige große Konzerne beschränkt und keine verallgemeinerbare Tendenz kapitalistischer Entwirklung ist, und keine umfassende Zukunftsperspektive haben dürfte". infolgedessen würde der Begriff der Globalisierung die sachlich und regional differenzierte Struktur kapitalistischer lnternationalisierung nicht angemessen wiedergeben." Jörg Huffschmid geht wie Rudolf Hickel davon aus, dass man von einer wirklichen Globalisierung nur in Bezug auf die Finanzmärkte sprechen kann, während z.B. Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf die Entkoppelung von Finanzmärkten und realer Wirtschaft in den Mittelpunkt der Globalisierungsdebatte stellen.

Für Winfried Wolf hat sich wenig verändert und er schreibt wider den "Mythos der Globalisierung"(11): "Die 200 größten Konzerne dieser Welt kontrollieren heute rund ein Drittel des weltweiten Bruttoinlandproclukts. Ihre Macht ist in clieser Hinsicht rund doppelt so groß wie die Macht der 200 größten Konzerne in den 1960er Jahren. Wichtig ist jedoch zu erkennen: biese Konzerne operieren zwar international; sie realisieren gelegentlich sogar den größten Teil ihres Umsatzes im 'Ausland'. Doch es handelt sich nicht um 'transnationale' oder 'multinationale' Konzerne. Hinsichtlich ihrer Eigentümerstruktur blieben diese Konzerne vielmehr 'national' eingebunden in die 'nationale' herrschende Klasse des jeweiligen Landes."(13)

Und schließlich gibt es die These - die das isw in seinen Arbeiten zu begründen sucht -, dass die, Globalisierung der Ausdruck einer neuen Entwicklungsphase des monopolistischen Kapitalismus ist. Im Mittelpunkt stehen dabei die -Herausbildung transnationalen Kapitals und die Transnationalen Konzerne als das entscheidende Subjekt und Triebkraft der Globalisierung.

In der Literatur werden für international operierende Konzerne vielfach die Begriffe "internationale", "multinationale", "transnationale" oder "supranationale" Konzerne bzw. Unternehmen verwendet. Mit den unterschiedlichen Begriffen sollen Unterschiede im lnternatonalisierungsgrad der Konzerne gekennzeichnet werden. So unterscheidet z.B. das HWIWA - Hamburger Institut für Wirtschaftsforschung: (14)

1. Multinationale Konzerne mit Muttergesellschaft (Hauptsitz im Ursprungsland) und Auf- und Ausbau von eigenständigen Tochtergesellschaften in der ganzen Welt, sog. Transplants, die entweder die gleichen Waren wie die Muttergesellschaft oder länderspezifische Produkte herstellen. Auf diese Weise wird in Auslandsmärkte eingedrungen bzw. werden dort höhere Umsätze erzielt. Die Steuerung der international zerstreuten Produktion und der Kapitalverwertung ist bei der Muttergesellschaft im Ursprungsland zentralisiert. Der Kapitalbesitz liegt zumeist bei der Bourgeoisie des Herkunftslandes.

2. Transnationale Konzerne, bei denen die gesamte Wertschöpfungskette international organisiert ist. Es handelt sich um ein internationales Netzwerk von Fabriken, die einzelne Stufen, Komponenten oder auch die Endstufe eines Gesamtproduktes bearbeiten. Die bisherige Arbeitsteilung innerhalb der Fabriken wird verringert, in dem sie teilweise i n selbstständige Einheiten aufgelöst und in andere Länder verlagert werden. Gleichzeitig wird die Arbeitsteilung innerhalb des Konzerns, wie auch die internationale Arbeitsteilung vertieft. Das Kapitaleigentum wird von privaten und institutionellen Kapitalanlegern über die bisherigen nationalen Grenzen hinweg gestreut.

Andere Untersuchung en verstehen unter Transnationalen Konzernen solche, die ihrem Kapital nach im wesentlichen national sind, aber deren Aktivitätsbereich durch Waren- und Kapitalexport und durch Auslandsproduktion international ist; "solche Monopole, die ausgehend von einem Zentrum in einem bestimmten Land ihre Operationen auf andere Länder ausdehnen, wo sie Unternehmen gründen oder die bestehenden erweitern und Abkommen mit lokalen Kapitalisten über die gemeinsame Beteiligung abschließen und so ihre ökonomische Macht vergrößern" (15). Unter Multinationa.len Konzernen werden dann solche verstanden, die in internationalem Maßstab Kapital vdrwerten und deren "Ausgangsbasis Kapital aus mehreren (in der Regel zwei oder drei) Staaten ist" (16).

Die UNCTAD definiert ein Unternehmen als Transnatiohales Unternehmen, wenn es neben der Muttergesellschäft über Auslandstöchter verfügt. Als Auslandstochter wird ein Unternehmen im Ausland gewertet, auf dessen Management die Muttergesellschaft auf Grund ihrer Kapitalbeteiligung (mindestens 10 Prozent des Aktienkapitals oder eine vergleichbare Größenordnung bei nichtbörsennotierten Unternehmen) einen dauerhaften Einfluss hat. Mit dieser Definition zählt die UNCTAD 65.000 Transnationale Unternehmen mit über 850.000 Auslandstöchtern. (17)

Anknüpfend an Arbeiten von Ökonoffien aus der DDR (18) verwenden wir die Bezeichnungen Multinationale Konzerne (Multis), Transnationale Konzerne (TNK) und Internationale Konzerne synonym. Denn in der Wirklichkeit treten die international operierenden Konzerne in so vielfältigen Kombinationen und Variationen auf, dass die Übergängevon dem einen zum anderen Internationalisierungsgrad mehr oder weniger zu einer Ermessensfrage wird. Außerdem "kommt es nicht so sehr darauf an, die nationale oder multinationale Herkunft des Kapitals nach den herkömmlichen politischen Unterscheidungen zu bestimmen, als vielmehr die unwiderlegbare Tatsache festzustellen, dass die Expansionskraft des Monopols dieses veranlasst hat, die Grenzen der Nation zu überschreiten, das Nationale seiner Bewegung unterzuordnen". (19)

1. Neue Stufe der Internationalisierung ab Mitte der 70er Jahre

Zweifelsohne haben sich ab 1989/1990 mit dem Niedergang und Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Länder Osteuropas einschneidende Veränderungen in der weltpolitischen Entwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte vollzogen. Ungehemmt konnte nun das Kapital expandieren und die zu eng gewordenen Verwertungsgrenzen hinausschieben.

Aber die Zäsur in der kapitalistischen Weltwirtschaft wär schon Mitte der 70er Jahre erfolgt, meist als Yrise des Fordismus" bezeichnet. "Die Weltwirtschaft ist seit 1973 in eine neue Phase eingetreten", stellt Eric Hobsbawn im Rückblick fest. Zu dieser Zeit wies z.B. die DDR-Ökonomin Katja Nehls bereits auf die beginnenden Veränderungen hin, weil "der Spielraum, den der staatsmonopolistischen Kapitalismus für die Bewegung des relativen Kapitalüberschusses setzte, sich zu erschöpfen beginnt". (21) Es muss, führte sie Weiter aus "um die Verwertungserford'ernisse der internationalen Korizerne durchzusetzen, der staatsmonopolistische Kapitalismus stärker internationalisiert werden".

 

Neue Märkte 

Um den Stagnationstendenzen auf den Binnenmärkten entgegen zu wirken, hatten die Großun-ternehmen ab Ende der 60er Jahre verstärkt auf Weltmarktexpansion gesetzt. Die Hoffnung auf zusätzlichen Absatz auf dem Weltmarkt wurde zu einem erstrangigen Motiv für Investitionen. Mitte der, 70er Jahre kam es aber dann doch zur ersten weltweiten Überproduktionskrise nach dem Zweiten Weltkrieg; mit ausgelöst und verschärft durch die "Olkrise". Im Gefolge der Krise entstand wieder eine "industrielle Reservearmee", die jedoch infolge des beschleunigten Rationalisierungstempos für den folgenden Aufschwung hicht mehr in Beschäftigung gesetzt wurde ("Jobless Growth"). Sie fungierte fortan als Druckmittel zur Rückverteilung des Volkseinkommens zugünsten der Unternehmer. 1975 wird mit 66,1 Prozentpunkten die höchste Lohnquote erreicht, die ab dann kontinuierlich fällt.

Zu dieser Zeit hatten die rasant anwachsende Staatsverschuldung und das Preisdiktat der Monopole die inflationäre Entwicklung beschleunigt. In Anwendung der antizyklischen Konjunktur- und Haushaltspolitik hatte sich der Staat im Abschwung verschuldet, um über Investitionsprogramme die Konjunktur zu beleben. Nach der Theorie hätte die Staatsverschuldung dann im konjunktureilen Aufschwung durch die Höherbesteuerung der Unternehmensgewinne wieder abgebaut werden müssen.

In der Praxis aber verhinderte die Macht der Monopole die Umverteilung von den privaten Gewinnen zu den öffentlichen Haushalten. Dazu kamen die Lasten permanenten Auf- und Wettrüstens. Mit dem steigenden Stellenwert des internationalen Konkurrenzkampfes um Absatzmärkte erfolgte eine Höhergewichtung der Risiken einer inflationären Entwicklung durch das Kapital. Eindämmung der Inflation wurde zum Gebot der Politik. Spiegelbildlich zur gewachsenen Staatsverschuldung hatte sich eine neue Kaste von Besitzern vdn Geldvermögen formiert, die auf steigende Reälverzinsung ihres Geldkapitals drängte. Regierung und Notenbank schalteten um - von antizyklischer Wirtschaftspolitik auf Exportförderung und inflationsbekämpfung. Das keynesianische Regulationsmodell hatte sich erschöpft. "Alle Gründe, die in den 50er und 60er Jahren eine konsumtive Endnachfrage verursachten, kehrten sich nach und nach um; Die nachfragepolitische Reaktionsweise von Staat und Kapital bestand mehr und mehr darin, die strukturelle Binnennachfrageschwäche hinzunehmen und statt dessen auf'eine Modernisierungsstrategie mit aggressiver Weltmarktorientierung bei hohen Leistungsbilanzüberschüssen zu setzen." (22)

So markierte die Krise 1974/1975 den "Bruch im Entwicklungsmuster von Profirate und Akkumulation". Bis zu diesem Zeitpunkt war im Vordergrund gestanden, die fallende Durchschnittsprofitrate dürch beschleunigt steigende Profitmassen zu kompensieren. Die Akkumulation war angetriebeh worden durch steigende Nachfrage aus Expansion von Löhnen und Staatsausgaben. Die sozialstaatliche Regulierung - "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." (Artikel 20, Absatz 1 des Grundgesetzes) - hatte neben der sozialpolitischen Aufgabenstellung (Absicherung in Notfällen und Abschwächung sozialer Gegensätze) so auch eine ökonomische Funktion: Die Sicherung der Masseneinkommen auch in konjunkturellen Schwächeperioden verhinderte eine stärkere Absenkung der Akkumulationsdynamik und ermöglichte eine zügige Ausbreitung einer der fordistischen Massenproduktion entsprechende Lebens- und Konsumweise.

Dieser Akkumulationstyp geriet in die Sackgasse der Stagflation (Stagnation bei gleichzeitiger Inflation) und war kontraproduktiv zur forcierten Weltmarktorientierung.

Internationale Konkurrenzfähigkeit

Ab Mitte der 70er Jahre nahm der triadenübergreifende Außenhandel und die Konkurrenz mit Unternehmen aus den USA und Japan zu, so dass der Faktor "internationale Konkurrenzfähigkeit" an Bedeutung gewann. Zur Förderung der Exportfähigkeit erfolgte ein wirtschaftspolitischer Wechsel zu staatlich unterstützter Kostensenkung für die Unternehmen. Senkung der Löhne und Unternehmenssteuern, Einschnitte in das System der sozialen Sicherung, massive staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung standen fortan im Vordergrund. Dazu kam die Priorität der Inflationsbekämpfung und die Politik einer unterbewerteten DM zur Exportförderung.

In den Betrieben begann zu dieser Zeit die "systemische Rationalisierung": Die Neuorganisation des gesamten betrieblichen Ablaufs und die Kombination moderner Technologien und Produktionsmethoden mit neuen Management- und Organisationskonzepten (Stichworte: mikroelektronische Datenvearbeitung, just-in-time-Produktion, lean production, lean company, ständiger Verbesserungsprozess "Kaizen" zur Verkürzung der Durchlaufzelten und Steigerung der Qualität, indirekte Steuerung) setzteri bislang ungeahnte Rationalisierungspotenziate frei. Diese Maßnahmen bedeuteien zugleich eine Reaktion auf die Krise 1974/75, eine Anpassung des Produktionsniodells. Die fordistische Produktionsweise hatte auf hohe Losgrößen orientiert und einen hohen Austastungsgrad cler Kapazitäten verlangt, um in die Gewinnzone zu kommen. Das verstärkte die Tendenz zur Überproduktionskrise. Kennzeichnend für diese Krise waren hohe Überkapazitäten, Halden- und Lagerbestände, die riur langsam in und nach der Krise abgebaut wurden. Mit dem Übergang auf "lean production" entstanden flexiblere Anpassungsmöglichkeiten an konjunktureile Schwankungen. Die Gewinnschwelle wurde nun bereits mit deutlich niedrigerer Kapazitätsauslastung er reicht.

Im "Krieg der Konzerne” um Weltmarktanteile gewann die Technologiekonkurrenz an Bedeutung, d.h. die schriellere Einführung neuer Produkte und Verfahren, das schnölleres Umsetzen von Wissenschaft,in Technik und Produktion, die Verkürzung der Umschlagzeit des Kapitals. Daraus folgt ein höheres Gewicht des technologischen Vorsprungsgewinns gegenüber den Konkurrenten im Verhältnis zum normalen Durchschnittsgewinn, der sich nach Verallgemeinerung neuer Technologien in der Branche ergibt. Der Zwang der Technologiekonkurrenz führte zum technologischen Umbau überkommener Monopolstrukturen; das alte Produktivkraftsystem wurde revolutioniert. Vor diesem Hintergrund konnten die Technologiekonzerne zu den Hauptakteuren bei der Durchsetzung eines neuen Akkumulationstyps werden, der im Laufe der 70er Jahre Schritt für Schritt erfolgte. Es vollzog sich ein Übergang von der vorwiegend profitmassenorientierten zu einer stärker profitratenorientierten Akkumulation: Durch die Einsparung von Kapital - konstantem (Maschinen) und variablem (Löhne) - soll eine Steigerung der Durchschnittsprofitrate erreicht werden. Hand in Hand ging der Wechsel, von einer nachfrage zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik; denn nur diese passte zum neuen Akkumulationstyp. Im Ergebnis gelang die Stabilisierung und Erhöhung der Profitrate, doch dies war begleitet von niedrigem Wirtschaftswachstum, einer chronischen Nachfrageschwäche und struktureller Überproduktion. Zusätzliche Arbeitskräfte wurden nur noch in geringem Maße benötigt; die Massenarbeitslosigkeit geriet zur Dauererscheinung.

Die Produktivkräfte sprengen alle Grenzen

Die führenden Manager der Deutsche Aerospace AG (DASA), München, und der Boeing Company, Seattle, sind sich einig: Der geplante Riesen-Jumbo ... sprengt alle Dimensionen." So ein Flugzeug "kann kein Flugzeughersteller der Welt mehr allein entwickeln und bauen", (24) meldete die Süddeutsche Zeitung im Septernber 1993. Noch in den frühen 80er Jahren hatte die europäische und amerikanische Luftfahrtindustrie mit einem Entwicklungsaufwand von gut zwei Milliarden Dollar für einen neuen Verkehrsjet kalkulierte. Die Entwicklung des Airbus A340/330 kostete dann schon um die 3,5 Mrd. Dollar. Für den Großraumjet A3XX, der nach den Planungen ab 2005 ausgeliefert werden soll, veranschlagt das europäische Airbus-Konsertium Entwicklungskosten von zehn bis zwölf Mrd.Dollar. Für den Anfang der 90er Jahre geplanten Riesen-Jumbo, der von Jahr zu Jähr verschoben worden ist, hatten die Experten bereits damals mit Entwicklungskosten von 25 Mrd. Dollar gerechnet.

Die "Mega-Übernahme am US-Pharmamarkt" durch den Chemiekonzern Hoechst Mitte der 90er Jahre erklärte die Süddeutsche Zeitung ebenfalls "mit den davonlaufenden Forschungskosten". "Neue Medikamente verschlingen vor der Markteinführung mittlere dreistellige Millionenbeträge. Neuheiten müssen, was den Zwang zur Größe unterstreicht, weltweit angeboten werden. Wer nur national neue Präparate vertreibt, kann seihe Entwicklungs-und Forschungskosten nicht verdienen."(25) Der Prozess der Kapitalzentralisation hat in den 90er Jahren massiv auch auf die Saatgutindustrie übergegriffen. Je forschungsintensiver die neuentwickelten Produkte werden, desto größer ist der Kapitalbedarf und desto größer muss der Markt werden. Gab es vor zehn Jahren in den Ländern der Triade noch ca. 300 Firmen, die am Saatguthandel beteiligt waren, so teilen sich heute die ersten 10 Konzerne wie Monsanto, Pioneer, Limagrain oder Kleinwanzlebener Saatzucht 75 Prozent des Weltmarktes auf.

Nahezu im Wochentakt stellt die Chip-Industrie neue Joint Venture-Firmen und strategische Partnerschaften für die Entwicklung oder die Produktion vor. Härteste Konkurrenten schließen sich zumindest zeitweise zusammen, denn die Entwicklung der Technologie in der Halbleiterbranche ist so rasant und verschlingt so viel Geld, das können die Unternehmen kaum allein schaffen". (26) Jüngst veranschlagten ST Microelectronics und Philips 1,4 Mrd. Dollar für die Entwicklung der Produktionstechnologie für einen neuen Prozessor. Zu viel für die beiden, obwohl sie die Nummer eins und drei in Europa sind. Also holten sie den US-Konzern Motorola ins Boot. Motorola ist aber auch Partner - und schärfster Konkurrent - von Infineon, die in einem Dreierverbund mit der amerikanischen Firma Agere einen neuen Prozessor für Mobiltelefone entwickeln.

Dieser Zwang zur Größe und zum globalen Gesthäft gilt auch für andere High-Tech-Bereiche, wie den Computer- und Kommunikationssektor, die Automobilindustrie und Bahntechnik, den Medien- und Energiebereich. Gerade in diesen lndustrie- und Dienstleistungssektoren wird das innovationstempo - bei progressiv ansteigenden Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen - immer weiter beschleunigt, was wiederum die Lebenszyklen verkürzt und infolgedessen auch die Amortisierungszeiträume. Ein Markteintritt sechs Monate nach der Konkurrenz kann bedeuten: wegen Preisverfall und dann bereits bestehenden Uberkapazitäten können nicht einmal die Entwicklungskosten hereingeholt werden. Geschwindigkeit und üroße Marktanteile werden zur Maxime im Überlebenskampf der High-Tech-Konzerne. Steigende Entwicklungsaufwendungen und schneller Auf- und Umbau von Produktionskapazitäten erfordern Kapitalvorschüsse, die nur noch kapitalstrotzende Konzerngiganten erbringen können. Und auch die nur, wenn sie am Tropf staatlicher FUE-Subventionen hängen. (27)

Aber selbst größte Länder sind heute nicht mehr in der Lage, die von der wissenschaftlich-technischen Revolution hervorgebrachten Produktivkräfte für sich alleine oder vorwiegend auf national er Basis zu bewältigen.

Die sprunghafte Entwicklung der Produktivkräfte stellt neue weitreichende Anforderungen an den Internationalisierungsprozess, an die ökonomische Integration der nationalen Wirtschaften. Sie verlangt "eine Zentralisation der Entscheidungen über Produktion und Verteilung, über die Verwendung der Akkumulationsquellen im internationalen Maßstab". (28) Um die wachsenden Kapitalvorschüsse wieder einzuspielen und eine angemessene Profitrate zu erzielen, müssen Produktion und Absatz enorm ausgeweitet werden. Inlandsmarkt und selbst ein Regionalmarkt der Triade reichen dazu in der Regel nicht mehr aus. Produktion und Absatz müssen global, möglichst in allen Triadeteilen, expandieren. Im Bereich Telekommunikation gilt ein Weltmarktanteil von 15 Prozent als "kritische Größe" für die Überlebensfähigkeit. Heute steht diese Branche vor der Herausforderung, die Dienste des Telefon-Sprachnetzes ohne Qualitätseinbußen über eine auf Internet-Technologie basierenden Infrastruktur abwickeln: "Weltweit sind nur fünf Konzerne in der Lage, diese Konvergenz zu, realisieren. Einer davon ist Siemens, je zwei sind im übrigen Europa und in Nordamerika zu Hause", meint der Direktor des Fraunhofer-Institutes für Systeme der Kommunikationstechnik. (29)

Natürlich beschränkt sich die Internationalisierung des Kapitals nicht auf die High-Tech-Branchen. Transnationale Konzerne gibt es z. B. auch in der Mineralwasser-Branche. Aber anders als etwa bei Limonaderi-Herstellern ist bei High-Tech-Branchen äie internationale Dimehsion zunehmend eine Voraussetzung, um überhaupt produzieren und am (Welt-)Markt präsent bleiben zu können. Im Mineralwasserbereich gibt es Unternehmen lokaler Größenordnung und Weltunternehmen. In der Chipindustrie, der Telekommunikation, der Luftfahrt- oder Automobilindustrie kann es nur noch international - in allen drei Bereichen der Triade - agierende Unternehmen geben.

So hat die sprunghafte Entwicklung der Produktivkräfte die Globalisierung erzwungen und gleichzeitig - vor allem durch die revolutionären Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (Computerisierung und Datenübertragung/Internet) sowie im Transportwesen (Containertransport) - die internationale Organisation der Produktion, die "betriebswirtschaftliche Globalisierung" ermöglicht. Mittels globaler Produktionsnetzwerke organisieren die Multis die 'globale Fabrik'.

 

Das Ende von Bretton Woods

Schließlich ist ein weiteres Ereignis von Bedeutung: der Zusarnmenbruch des Währungssystems von Bretton Woods. Am 15. August 1971 hob die Nixon-Regierung die Parität des Dollars zum Gold, die im Jahr 1944 in Bretton Woods festgelegt worden war, einseitig auf. Der Krieg gegen Vietnam hatte ein gigantisches Haushaltsdefizit hervorgerufen, das durch die gesteigerte Ausgabe ungedeckter Dollars und die Erhöhung der Zinsraten kompensiert worden war. Dies trug zur weltweiten Inflationslawine bei und schwächte die Position der US-Währung gegenüber dem japanischen Yen und der deutschen Mark. Zudem hatte schon Mitte der 60er Jahre die Verringerung des traditionellen Handelsüberschusses der USA begonnen. 1971 wiesen die USA ein Handelsdefizit aus. Bei ausländischen Banken hatten sich zu diesem Zeitpunkt Unsummen von US-Dollar angesammelt. Bevor diese eingelöst werden konnten, hob die US-Regierung die Golddeckung ihrer Währung auf.

Ein neues Währungssystem, das auf "flexiblen Kursen" beruht, trat an die Stelle der fest gekoppelten Wechselkurse. Damit verbunden war der Beginn der schrittweisen Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte. Jetzt erst erhielt das Finanzkapital bei Devisenoperationen den richtigen internationalen Spielraum und machte die spekulative Anlage in Devisen und später in deren Derivaten zu einem lukrativen und expandierenden Zweig des Finanzkapitals. Nicht nur die Staatsverschuldung konnte nun international finanziert werden; da Kapitalpapiere ebenfalls international leichter zu übertragen waren, förderte dies die Ausdehnung von Tochterfirmen der Multis durch den Aufkauf schon bestehender Unternehmen ohne wesentliche stoffliche Neuinvestitionen.

 

2. Krise des "Sozialstaats" und Sieg des Neoliberalismus

Mitte der 70er war eine Konstellation entstanden, die von R. Cervantes Martinez und Ko-Autoren wie folgt beschrieben wird: "Der nationale staatsmonopolistische Kapitalismus mit seinen großen 'fordistischen' Konglomeraten erwies sich als zu eng für die geschaffenen Produktivkräfte, für das erreichte Niveau der Arbeitsproduktivität, für den Mangel an Märkten für seine Produkte. Nicht die Produktivkräfte waren erschöpft, sondern unmittelbar die Märkte, dem Wesen nach die Produktionsweise." (30) Erschöpft hatten sich auch die bisherigen Mittel der direkten staatsmonopolistischen Regulierung, die mit der Öffnung der Märkte dann zunehmend entwertet wurden.

 

Auslaufmodell "Sozialstaat" 

"Neoliberalismus" nennt sich das neue Wirtschaftsund Gesellschaftskonzept, mit dem ab Mitte der 70er Jahre dem mehr oder weniger ausgeprägten keynesianischen Regulierungs- und Wohlfahrtsstaat in alleh kapitalistischen Metropolenländern und den Projekten der nachholenden Entwicklung in den Entwicklungsländern der Garaus gemacht wurde. Die Kampfansage bestand bereits seit larigem. "Der Weg zur Knechtschaft" hatte Friedrich Hayek im Jahr 1944 eine seiner Kampfschriften gegen den Keynesianismus getitelt. Doch es war nicht der Neoliberalismus, sondern der so genannte Wohlfahrtsstaat, der in der Nachkriegszeit den Erfordernissen des Kapitals und der staatsmonopolistischen Regulierung entsprach. Trotzdem war die Beziehung zwischen Kapital und "Sozialstaat' irnmer konfliktträchtig, denn es ist das Ziel der sozialen Sicherung, durch sozialstaatliche Regulierung die Arbeitskraft sowie die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung in einem begrenzten Maße von den kapitalistischen Marktgesetzen abzukoppeln. Dies bringt das Kapital um einen Teil seiner Macht, denn Armut und Unsicherheit disziplinieren. Aber die Existenz starker gewerkschaftlicher und politischer Organisationen der Arbeiterbewegung und der Druck durch die Systemkonkurrenz hatte in der Nachkriegszeit auch bürgerlich-konservative Kräfte zu der Einsicht gezwungen, dass Staatsinterventionismus und ein sozialer Kompromiss zum Erhalt der inneren Stabilität erforderlich und der ökonomischen Entwicklung nützlich sei. Der Grundkonsens der bundesdeutschen Gesellsdhaft nach dem Zweiten Weltkrieg - aber im Grunde gilt dies für alle kapitalistischen Zentren - basierte auf dem stillschweigenden Einvernehmeri zwischen Kapital und Arbeit, dass beide Seiten an den Früchten des Wachstums teilhaben sollen. Fixiert wurde dieser soziale Kompromiss über - durchaus auch harte - Verteilungskonflikte. Im Ergebnis entstand ein ganzes Geflecht von Tarifvertragssystem, Sozialsystemen, Sozialgesetzgebung, Betriebsverfassungsgesetz, etc., das der institutionellen Absicherung dieses sozialen Kompromisses und zur Entschärfung von Klassenkonflikten diente. Dieses "Konsens-Modell" legt über die Steigerung der individuellen Reallöhne und die Abfederung sozialer Risiken und Ungleich-heiten, über die Entwicklung der Kaufkraft im Gleichschritt mit der Produktivität, über antizyklische wirtschaftliche und geldpolitische Interventionen des Staates und über die Regulation der Arbeitsbeziehungen die Grundlagen für den Erhalt des "sozialen Friedens" und für den erfolgreichen Aufschwung.

Basierend auf stärkerer Binnenrnarktorientierung und staatlicher sozialer Regulierung, durchgesetzt und vermittelt durch den gewerkschaftlichen Kampf, und nicht zuletzt der Systemkonkurrenz bestand ein Zusammenhang zwischen Produktivitätsfortschritt und sozialem Fortschritt. Mit der ungehemmten Weithiarktkonkurrenz zerbrach dieser Zusammenhang. Dieses Modell wurcle nun zu einem Hemmnis für die Expansion des Kapitals. Nur die "Entfesselung der Marktwirtschaft" könne den "neuen Wohlstand der Nation" garantieren. So der Chefökonom der Deutschen Bank, Norbert Walter, in Anlehnung an den Urvater des Liberalismus, Adam Smith. Bürgerrechte, demokratische Mitspracherechte bei Planungsverfahren, aber seien "bürokratische Hemmnisse", die sich lähmend auf die Vitalität der Marktwirtschaft auswirken würden.

 

Der Siegeszug des Neoliberalismus

Das Konzept des Sozialstaats hatte aber auch in breiten Kreisen der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit und Unterstützung verloren. Die sozialdemokratischen Regierungen waren dem Konflikt mit dem Kapital aus dem Weg gegangen, der unausweichlich gewesen wäre, wenn sie die notwendige Umverteilung zur Senkung der Staatsverschuldung und zur Finanzierung des Sozialstaates hätten durchsetzten wollen. Stattdessen belasteten sie die Lohneinkommen mit steigendeh Steuern und Abgaben und begannen gleichzeitig mit Einschniiten in das soziale Netz. Was in Tarifkonflikten mühsam durchgesetzt worden war, ging an den Staat verlören. Das untergrub das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates und ließ die Neoliberalen punkten, die eine Senkung der Abgaben versprachen. Gewichtig war zudem die Inflationsfrage. Hier konnte sich der Neoliberalismus mit seiner manetaristischen Inflationstheorie, nach der die Inflation nur durch Geldmengensteuerung uhd Senkung der Staatsausgaben bekämpft werden könne, erfolgreich ins Spiel bringen.

Zu den politischen Faktoren, die den Herrschenden "neue" Lösungswege im Sinne der "neoliberalen Revolution" eröffneten, zählten, dass sich in Deutschland trotz fortbestehender Massenarbeitslosigkeit keine politischen Radikalisierungstendenzen abzeichneten. In Frankreich scheiterte die Linksregierung mit ihren binnenwirtschaftlichen und antimonopolistischen Ansätzen, weil diese Maßnahmen infolge der inzwischen erreichten Weltmarkt-Integration durch Kapitalflucht und das internationale Finanzkapital känterkariert wurden. In England brach der Streik der Bergarbeiter zusammen, weil er nicht zum Impuls einer nationalen oder europaweiten Solidarisierung der Arbeiterbewegung wurde. Der Weg für die neoliberale Politik der Thatcher-Regierung war frei.

1979 übernahm in Großbritannien, im Heimatland von John M. Keynes, die Konservative Partei mit Margaret Thatcher an der Spitze die Regierung. 1980 leitet Ronald Reagan in den USA die "Neue konservative Revolution" ein. 1982 begann dann in der Bundesrepublik Deutschland mit Helmut Kohl die "moralisch-geistige Wende". Während die Thatcher-Regierung in Großbritannien die neoliberale Angebotspolitik rigoros umsetzte, kam es in den anderen Ländern zu Übergangs- und Mischformen, wie z.B. in der BRD durch die "sozial-liberale" Schmidt-Regierung. Auch während der Regierungszeit Helmut Kohls wurde in Deutschland, im Vergleich zu Großbritannien, eine gemäßigte Form des Neoliberaiismus und der angebotsorientierten, Politik etabliert. Der "rheinische Konsenskapitalismus" blieb zumindest in Teilen erhalten. Erst die SPD/Grünen-Regierung verhalf der neoliberalen Politik zu neuer Nachhaltigkeit und Schwung. Selbst die "Reaganomics" in den USA in den 80er Jahren stellte keine rein neoliberale Wirtschaftspolitik dar. Die Angebotsorientierung war gekoppelt mit einem gigantischen rechts-keynesianischem Deficit-spending, über das Totrüstungs- und Krieg der Sterne"-Programm der 80erJahre. Neoliberalismus pur wurde vor allem den Ländern der kapitalistischen Peripherie als allgemeingültiges Modell aufgezwungen.

Einige Jahre bevor der Neoliberalismus in den Metropolen seinen Siegeszug begonnen hatte, war Chile zum neoliberalen Experimentierfeld gemacht worden. Der Wechsel war nicht durch die!'unsichtbare Hand des Marktes" (Adam Smith), sondern durch die "blutigen Hand der Militärdiktatur" herbeigeführt worden. Am 11. September 1973 stürzte General Augusto Pinochet in einem blutigen Militärputsch die demokratisch gewählte Regierung Sälvador Allendes. Die "Chicago, boys", Schüler von Milton Friedman, besetzten Schlüsselpositionen in der Militärdiktatur und verordneten dem Land einen "ökonomischen Schock'. Die Löhne wurden eingefroren, um "wirtschaftliche Stabilität und die Abwehr inflationären Drucks" zu sichern, während die Lebensmittelpreise explodierten. Der Brotpreis wurde über Nacht um 264 Prozent angehoben. Von einem Tag auf den anderen wurde die große Mehrheit der Bevölkerung in die Armut gestürzt. 85 Prozent cler chilenischen Bevölkerung gerieten unterhalb die Armutsgrenze. Der sogenannte "freie Markt" erwies sich als ein gut organisiertes instrurnent der wirtschaftlichen Unterdrückung.

 

Die Theorie des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus (31) ist mehr als nur eine Politikvariante des Kapitalismus. Er präsentiert sich gleichermaßen als Theorie und universelles gesellschaftliches Konzept. Die Forderung nach uneingeschränkter Autonomie für die Vermögensbesitzer wird vom Neoliberalismus als Forderung nach allgemeiner Freiheit vertreten. Damit die individuelle Freiheit als oberstes Ziel einer Gesellschaft möglich ist, müssen sich alle Mitglieder der Gesellschaft allgemeinen Verhaltensregeln unterwerfen: Sie erkennen das Privateigentum an, akzeptieren den Markt und den Wettbewerb als Organisations- und Entwicklungsmethode, weil diese der Politik überlegen seien, bejahen die Vertragsfreiheit Ünd unterwerfen sich der Vertragsvollstreckung. Aufgabe des Staates ist es dann, diese allgemeinen Verhaltensregeln notfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Einen darüber hinausgehenden Zweck hat dieser "schlanke" Staat nicht. Das Wettbewerbsprinzip und der Markt sollen nicht nur die wirtschaftlichen Aktivitäten, sondern vor allem das gesellschaftliche und politische Zusammenleben bestimmen. "Der Staat muss sich eines großen Teils seiner Aufgaben entledigen und sie sozusagen seinen Bürgern zur Selbstorganisation in der Wirtschaft zurückgeben. Die soziale Vollversicherung zum Beispiel ist nicht seine Sache. Das kann der Markt besser. Von der Polizei und der Armee abgesehen, liefert der Markt fast alles kostengünstiger - und Arbeitsplätze dazu." (32)

Soziale Gerechtigkeit kann es in diesem System nicht geben, weil sie nicht definierbar ist. Friedrich von Hayek, der Hohepriester des Neoliberalismus, fordert statt dessen die uneihgeschränkte Verfügungsautonomie durch die Eigentümer bis zur völligen Vertragsfreiheit ein. Der daraus resultierende "finanzielle Gewinn", Reichtum und soziale Ungleichheit sind nicht nur zu tolerieren, sondern zu begrüßen. Hayek: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig." (33) Denn der individuelle Wohlstand und Reichtum sei "die Grundlage der Anerkennung durch andere" und sporne so als sichtbarer Erfolg, "als unpersönliches Signal" zum Nacheifern an. Nach Auffassung der Neoliberalen ist es "offensichtlich, dass in unserer Mitte großes Elend gegeben sein muss, welches das normale Ergebnis von Fehlverhalten ist und von diesem nicht getrennt werden sollte". (34) Lediglich solche Personen, die .'aus verschiedenen Gründen ihren Lebensunterhalt,nicht auf dem Markt verdienen können, wie etwa die Kranken, die Alten, die physisch und geistig Behinderten, die Witwen und Waisen" (35) sollen eine soziale Mindestabsicherung erhalten. Dafür war selbst Hayek: "Es gibt natürlich keinen Grund, warum eine Gesellschaft, clie so reich ist wie die moderne, nicht außerhalb des Marktes für diejenigen, die am Markt unter einen gewissen Standard fallen, ein Minimum an Sicherheit vorsehen sollte. ... Gerechtigkeitsüberlegungen (aber geben) keine Rechtfertigung für eine Korrektur' des Marktergebnisses" (36) ab. Dies schließt Unternehmerbeit räge zur Sozialversicherung aus 'und legt den Schwerpunkt auf freiwillige Almosenvergabe und Wohltätigkeit, was zudem über gemeinnützige Einrichtungen Steuern spart.

Gruppen dagegen, die mehr "soziale Gerechtigkeit fordern, verhindern, dass die "fruchtbare Energie der Ungleichheit' freigesetzt wird, wiel es der Reaganomicer George Gilder formulierte.'Die .'grundsätzliche Unmoralität allen Egalitarismus", wie Hayek diese Forderung qualifiziert, lähme die Gesellschaft, blockiere deren eVolutionäre Entwicklung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit sei demnach ein historischer Rückschritt, ein Anachronismus und zudem, vom Standpunkt eines höheren Zivilisationsstandes, amoralisch. Aber wegen des allgemeinen Wahlrechts müssten sich die Parteien der Unterstützung der Schlechtesten und der ökonomisch Ineffizienten versichern. Der Staat sei zur Beute organisierter Interessen, allen voran der Gewerkschaften geworden. Hayek: "Monopolistische Praktiken, die heute das Funktionieren des Marktes bedrohen, sind seitens der Arbeiter viel gravierender als seitens der Unternehmer, und ob es uns gelingt, diese wieder zu beschränken, wird für die Erhaltung der Marktordnung entscheidender sein als irgend etwas sonst." Deshalb müssten die Kompetenzen des Oarlanients so eingeschränkt werden, dass der von den Schlechtesten angestrebte Egalitarismus als institutioneller Zugriff auf das Privateigentum unterbunden, ihre Position als Mehrheitsbeschaffer unbedeutend wird. Gegen EinmIne und Gruppen, die sich diesen Regeln nicht freiwillig unterwerfen und mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit die Autonomie der Eigentümer einschränken und so die Evolutionsfähigkeit der Gesellschaft gefährden, sind dann auch Zwangsmaßnahmen des Staates gerechtfertigt.

Die neoliberale Offensive richtet sich aber nicht nur gegen die parlamentarische Demokratie, sondern auch autoritäre Regimeis in den Entwicklungsländern geraten in das Visier des Neoliberalismus. Allerdings nur, wenn sie das Ziel nationaler Souveränität betonen und sich nicht uneingeschränkt in den Weltmarkt integrieren und ihre Märkte für die Multis öffnen.

 

Theorie im Angebot

'Revitalisierung' des Kapitalismus durch mehr Marki und "weniger Staat heißt die Zauberformel des Neoliberalismus. Das wirtschaftspolitische Pendant dazu ist die "Angebotsorientierung". Sie ist auf die Verbesserung der Produktions- und Wachstumsbedingungen und die Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit gerichtet. Die Stimulierung der lnvestitionsfähigkeit steht im Mittelpunkt. Dem sollen Steuer- und Kostensen-kungen diennen. Gefordert werden Verringerung der Staats- und Sozialausgaben zur Finanzierung dieser Steuersenkungen und Erhaltung der Geldwertstabilität. Nicht mehr die gesamtwirtschaftliche Nachfrage oder gar die Massenkaufkraft, sondern die Unternehmensgewinne werden zur zentralen Größe. Nach der simplen Forderung, je höher die Gewinne, desto höher die Investitionen, desto mehr Arbeitsplätze und desto bessere Löhne, soll die Marktwirtschaft durch Effizienz- und Gewinnsteigerung im Selbstlauf Wachstums-, Beschäftigungs- und Verteilungsfragen gleichzeitig lösen.

 

"Terror der Ökonomie" 

Zwangsläufige Folge neoliberaler Politik ist die beschleunigte Konzentration von Einkommen und Vermögen bei einer kleinen Elite und damit die verschärfte Polarisierung zwischen Nord und Süd, zwischen Reich und Arm. Meoliberalismus, das ist Reaktion auf der gänzen Linie. "Der Neoliberalismus verspricht zwar Freiheit und Nicht-Einmischung des Staates. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Konzept, das den autoritären Staat legitimiert. Neoliberalismus bedeutet das Ende von Volkssouveränität, von gleichem und allgemeinem Wahlrecht, von wirklicher Demokratie. Neoliberalismus ... ist der erklärte Gegner der europäischen Aufklärung", (38) resümiert der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Schui.

Es ist kein Zufall, dass der Siegeszug des Neolibe-ralismus in den kapitalistischen Metropolen mit der verstärkten Internationalisierung des Kapitals zusammenfällt. Er liefert dem iratisnationalen Ka-pital die ideologische Rechffertigung, um letzte nationale Schutzmauern, etWä in den Entwicklungs- und Schwellenländern 'niederzureißen und die Deregulierung und Liberäiäierung der Güter- und Finanzmärkte weitweit durchzusetzen. "Der Terror der Ökonomie" das Dik-tat des Weltmarktes soll die letzten Winkel der Erde gelteln. Denn aufdem Markt werden nicht nur Waren getauscht", gondern über den Markt wird auch die Macht der Stärksten reproduziert. Deshalb werden Protektionisrhus und nationale Entwicklungswege als wachstums- und entwicklungshemmend diffamiert. Nur die "Öffnung der Märkte" garantiert angeblich Wohlstand. Die Souveränität der Nationalstaaten wird untergraben. Sie fallen unter die Köntrolle einer superprivi-legierten Elite, die mit dem internationalen Finanzkapital assoziiert ist. Insofern isf, wie Osvaldo Martinez sagt, "der Neoliberalismus nicht einfach eine Wirtschaftspolitik, die man wechseln kann, sondern er ist eine organische Notwendigkeit des transnationalen Kapitalismus in einem bestimmten, Moment. ... Gleichzeitig ruft er tiefe, für das System sehr zerstörerische Widersprüche hervor. Zerstörerisch nicht nur für die Volkskräfte, für die Linke, für das Volk, für die arbeitende Klasse, sondern auch für das eigene System." (39)

 

Neoliberalismus und "entfesselter" Kapitalismus 

Aber auch auf die Gefahr hin, dadurch die Krisenpotenziale zu vervielfachen, sind die Multis gezwungen, gleichsam in einer "Revolution von oben" alle Kräfte zur "Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw." einzusetzen. Nach der erfolgreichen Konterrevolution, in der die Staaten des, Realsozialismus Osteuropas aufgerollt wurden, blieb das Kapital nicht bei der Restauration der alten Verhältnisse stehen. Mit dem Projekt des Neoliberalismus ergriff das transnationale Kapital die Initiative zu einer weltweiten Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse, bei der es die Macht und die Hegemonie - zumindest bisher - fest in den Händen behielt. (41)

Mit dem Verschwinden der Systemkonkurrenz war der Weg frei geworden, um alle Fesseln zu 'sprengen. Das Kapital konnte in großem Maßstab expandieren und die zu eng gewordenen Verwertungsgrenzen hinausschieben: Es erfolgte eine "äußere" und "innere Landnahme": Übernahme der DDR und Transformation der ehemals soziälistischen Länder Osteuropas, Destruktion nationaler Entwicklungswege und Öffnung der Märkte (Indien, Südkorea, Indonesien, Brasilien, Jugoslawien). Zwar glaubte der Liberale Rolf Dahrendorf noch "Jetzt sind wir endlich so frei, in einer offenen Gesellschaft so viele Spielarten des Kapitalisrnus zu entwickeln, wie wir nur wollen", (42) aber die Realität im transnationalen Kapitalismus ist eine andere. Weltweit setzt sich der "Shareholder Value Kapitalismus" nach angelsächsischem Vorbild durch. Die Multis und die Weltfinanzmärkte diktieren den Staaten die Bedingungen. Internationaler Währungsfond, Weltbank, Welthandelsorganisation verfolgerl überall identische Zielstellungen. Als Folge kommt es zu absolut gleichen Entwicklungen bzgl. Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung, Privatisierung des öffentlichen Sektors und sozialer Bereiche wie Gesundheit, Rente, Bildung, Privatisierung des Wassers,letc. Der Sieg neoliberalerWirtschaftspolitik eröffnete dem Kapital auch neue Dimensionen.der inneren Landnahme. Mit der Deregulierung und Privatisierung von Post und Telekommunikation, Energi'eversorgung und dem Transportwesen; mit der Privatisierung des sozialen Sicherungssysteme Rente und Gesundheit erschließt sich das Kapital neue Verwertungsräume. Sowohl diese äußere wie auch die innere Landnahme, allem.voran die Privatisierung der großen staatlichen-Monopole, verstärken den Internationalisierungsschub des Kapitals.

 

Globalisierung - eine neue Phase der Internationalisierung des Kapitals

Getrieben von der Entwicklung der Produktivkräfte und der Jagd nach Profit und organisiert durch die Politik, vollzieht sich ein qualitativ neuer Sprung der Internationalisierung des Kapitals in seinen drei Aspekten:

1. Internationalisierung des Handelskapitals: Der Welthandel wuchs in den vergangenen Jahrzehnten weit schneller als das Welt-Sozialprodukt, wodurch der Anteil des Exports in Bezug auf die Weltwirtschaftsleistung rasch zunahm (siehe auch Grafik auf Seite 17). Wichtige Voraussetzungen dazu waren der Abbau der Zoll- und Handelsschranken und die Etablierung des GATT- bzw. NTO-Regimes. Dadurch konnte sich ein weitgehend einheitlicher, echter Weltmarkt herausbilden.

2. Internationalisierung des zinstragenden Kapitals: Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods und der nachfolgenden Deregulierung und Liberalisierung der nationalen Finanzmärkte ab Mitte der 70er Jahre, konnten sich die Finanzmärkte global vernetzen. Es entstand ein Welt-Kapitalmarkt. Geldvermögensbesitzer, institutionelle Anleger ünd Investmentinstitute k8nnen nun uneingeschränkt in globalem Maßstab operieren. Dadurch werden Zinsen, Renditen und Profitraten weltweit vergleichbar und nähern sich einer globalen Durchschnittsprofitrate an. Mit dem Welt-Kapitalmarkt wurden auch die Grundlagen für die Entstehung eines globalen Marktes für Unternehmen gelegt.

3. Herausbildung transnationalen Kapitals undglobaler Wertschöpfungsketten: Den Kern der kapitalistischen Globalisierung stellt die wechselseitige kapitalmäßige Durchdringung und Verflechtung der Länder und Regionen dar, die zur Herausbildung transnationalen Kapitals in Form transnationaler Unternehmen und transnationater Konzerne führte. Dieser Prozess vollzog sich ab den 90er Jahren in besonders raschem Tempo. Die massenhafte Formierung transnationaler Konzerne mit Tausenden von ausländischen, Tochterunternehmen, führte beim produktiven Kapital, aber auch beim Handels- und Dienstleistungskapital zur Zerlegung der Wertschöpfungsketten und zum Aufbau globaler Produktions-, Dienstleistungs- und Handelsnetzwerke.

In diesem Sinne verstehen wir unter den Begriff aler Globalisierung den Zusammenhang von technologischer Entwicklung, Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Bewegungsform des relativen Kapitalüberschusses und der Jagd nach Profit über den ganzen Globus mit allen Folgen für Produktion und Konsumtion, für Politik und Staat, Krieg und Frieden. Dieser Prozess erfasst und verändert alle Lebensbereiche der Menschen wie Arbeit und Freizeit, Lebensstil "Bildung und Kultur. In diesem Verständnis wird mit dem Begriff "Globalisierung" keine neue Kategorie oder grundlegend neue Tendenz der Orgänisation der gesellschaftlichen Beziehungen der kapitalistischen Produktionsweise kreiert, sondern eine qualitative Veränderung, eine neue Phase im historischen Internationalisierungsprozess des Kapitals gekennzeichnet. Die Multis sind sowohl Resultat als auch entscheidende Triebkraft dieses Prozesses.

 

 Literatur

1) Vorstellung des Schlussberichts der Enquete-Kommission des Deutschen Bunddstages "Globalisierung der Weltwirtschaft' am 27.6,20022) Michel Chossudovsky, The Globalization of Poverty Ottawa, 2001

3) Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, in MEW Bd. 23, S. 161

4) ebenda, S. 468

5) Karl Marx, Das Kapital, 3. Band, MEW Bd. 25, S. 120

6) Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 466

7) Detfef Hensche, V 2/97

8)

9)

10) Ulrich Dolata, "Das Phantom der Globalisierung", Frankfurter Rundschau, 30.1.1997

Helmut Schauer, "Sozialismus" Supplement 6, S. 29 Gespräch mit Georg Zinn, -Die Globalisierung ist politisch gemacht', Junge Welt, 29,6.200211) Jörg Huffschmid, Globalisierung - das Ende von Wirtschaftspolitik, aus 'Wege zu einem anderen Europa", 1997

12) Winfried Wolf, Fusionsfieber, Köln 2000, S. 15f

13) Winfried Wolf, Rede am 22.5.2002 anlässlich des Besuchs von US-Präsident Bush in Deutschland.

14) vgl.die HWWA-Schriften: Härte V.Jungnickei, Grenzüberschreitende Produktion und Struktumandel, Baden-Baden 1996 und Maye 0charrer, Internationale Unternehmensstrategien und nationale Standortpolitik, Baden-Baden 1999

15) Eduardo de Llano, Ti impetialismo: capitalismo monopolista', Editorial ORBE, Havanna, 1976

16) Multis - Proletariat- Klassenkampf, Berlin, 1981 .

17) World Investment Report 2001-, United Nations, New York and Geneva, 2000

18) z.B. Katja Nehls, Internationale Konzerne, IPW-Forschungsheft 1/1973, Berlin, 1973

19) R. Cervantes Martinez, F. Gil Chamizo, R. Regaldo Alvarez, R. Zardoya Loureda 'Transnacionalizaciön y Desnaclunalizai6n - Ensayos sobre el capitalismo contemporäneo"; in deutsch erschienen im Neue impulse Verlag unter dem Titel "Imperialismus heute - Über den gegenwärtigen transnationalen Monopolkapitalismus", Essen, 2000

20) Katja Nehls, "Internationale Konzerne- Monopolmacht - Klassenkampf', IPW Forschungshefte, Heft 1/1973, Berlin, 1973, S. 20

21) ebenda,5.63

22) Jan Priewe, Krisenzyklen und Stagnationstenc[enzen in der Bundesrepublik Deutschland", Köln, 1988, 5. 267

23) ebenda, S. 268

24) Süddeutsche Zeitung, 12.1.1993

25)Süddeutsche Zeitung, 2.3.1995

26) Andrew Nomaod, Analyst beim Marktforschungsunternehmen Gartner, nach Financial Times Deuuchland, 8.8.2002

27) So wurde z.B. in den 80er Jahren das von Staat und Industrie getragene "Ein-Megachip-Projekt' gestartet, um den technologischen Rückstand bei Mikrochips gegenüber den japanischen und US-Konzernen aufzuholen. Gleiches gilt für die Programme der Europaischen Union und ihrer Mitgliedsländer zur Förderung der Computerindustrie und neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.

28) Katja Nehl, Internationale Konzerne - Monopolmacht- Klassenkampf, IPW Forschungshefte, Heft 1/1973, Berlin, 1973, S. 22

29) Prof. Dr.-Ing. Ingolf Runge, Direktor des Fraunhofer-Institutes für Systeme der Kommunikationstechnik, nach Süddeutsche Zeitung, 3.7.2002

30) Martinez/ Chamizo/ Alvarezi Loureda , a.a.O. 2000, S. 4531) Literatur: Friedrich von Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen, 1969/ Herben Schui, Die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates und der Neoliberalismus, in "Kapitalismus am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts", Hamburg, 1997 /Herbert Schui u.a., Wollt ihr den totalen Markt', München, 1997/ Herben Schui, "Neoliberalismus - Der Versuch, die Konzentration von Einkommen und Vermögen zu legtimieren, in "Geld ist genug da", Heilbronn, 1996

32) Süddeutsche Zeitung, 9.2.1996

33) Friedrich von Hayek, Winschaftswoche, 6.3.1981

34) Herbert Spencer, Men versus State, nach 'Wollt ihr den totalen Markt', München, 1997, S. 79

35) Friedrich von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 3, München, 1980, S. 83

36) Friedrich von Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung", Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen, 1969, S. 123

37) ebenda, S. 125

38) Herben Schui, in "Geld ist genug da", Heilbronn, 1996, S. 122

39) Gespräch mit Osvaldo Martinez, Direktor des Forschungszentrum für Welminschaft in Havanna, Zeitschrift "Cuba Socialista, Nr. 10, Havanna, 199840) Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Bd. 20, S. 12

41) "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung def alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus." Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 465

42) Rolf Dahrendorf, nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1997