Rezension von Wolfram Pfreundschuh
(erschienen in: Tagesspiegel (Berlin) vom 15. Oktober 2000, S. W5)

Kerstin Kempker: Mitgift – Notizen vom Verschwinden

208 Seiten, 34 Abbildungen, ISBN 3-925931-15-5, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2000. DM 29,80 / sFr 27,50 / �S 220,-

Wer es wissen will, der wei� es schon lange: Die Psychiatrie heilt keine Wunden. Sie ist kein Ort zur Erholung von Not und Qual, keine Quelle zur Kraftsch�pfung und Entwirrung aufgemischter Gef�hle, mit denen viele Menschen nicht mehr alleine zurecht kommen. Sie lindert nicht und stillt auch keinen Schmerz. Sie kaserniert ihn mit Begriffen und t�tet ihn mit ihren Mitteln – und nicht nur ihn.

Kerstin Kempker hat mehr als drei sehr junge Jahre in der Psychiatrie zugebracht. Sie erz�hlt davon und berichtet �ber das Davor und das Danach. In ihrem Buch geht es um Leben und Lebensvernichtung, um das Verschwinden ihrer Selbst und auch um das Wiedererwachen, das Zur�ckfinden aus dem Nichts. Sie beschreibt die Isolation und L�hmung, die Zersetzung ihrer Lebenskr�fte, welche ihr durch die Produkte psychiatrischer Wissenschaft, durch Neuroleptika, Insulinschocks und Elektroschocks, zugef�gt wurde. Ohne moralische Wertungen zeigt sie das pure Geschehen vor Ort und �ffnet den Blick f�r die fast automatische Abwicklung einer fatalen Logik, welche mit der Diagnose, mit der Festschreibung einer "Krankheit" einsetzt und oft nur mit der Vernichtung der "Krankheit" durch die Zerst�rung der Betroffenen endet.

Es ist die Logik eines Lebens von ohnm�chtigen Menschen in einer machtvollen Institution, die sich wie ein Zwang zur Normalit�t, die hei�t hier Symptomlosigkeit, durchsetzen will und mu�. Die Sinnest�uschung, welche diese Medizin betreibt, erzeugt auch, was sie zu heilen vorgibt. Den Betroffenen wird ihre eigene Wirklichkeit immer sinnloser, und sie werden durch die Behandlungstorturen oft zur Selbstaufgabe, Selbstzerst�rung und Selbstt�tung getrieben.

Dies alles beginnt aber nicht erst in den psychiatrischen Anstalten. Diese sollen ja helfen, "Krankheitssymptome" verschwinden zu lassen. Es ist nicht ihr genuiner Zweck, Leben und Leiden zu beherrschen. Lebensbeherrschung hat schon stattgefunden, bevor das beherrschte Leben behandelt wird – und nur deshalb kann Psychiatrie auch in der Fortf�hrung dieser Beherrschung mit anderen Mitteln funktionieren.

Kerstin Kempker beschreibt ihre Kindheit, Familie und Schule, die Erziehung, die F�rsorge und die Lebensbestimmung, welche diese Lebenswelt ausgemacht hat. Es ist die Welt ihrer Eltern, die Angst macht, weil ihr Grund verborgen bleibt. Aber die Kinder sollen ihn erf�llen, sollen sein, was sie f�r die Ehe ihrer Eltern sein m�ssen. "Kinder sind zur Rettung der Eltern da" (Franz Kafka, zit. von Kerstin Kempker).

Das widersinnige Familienleben erzeugt Scheinwelten und Liebesanspr�che, die einen trostlosen Alltag �berwinden sollen – f�r Kerstin eine einzige Agonie. Sie tr�umt, dass sie ausblutet. Ihr einziger Schutz hiergegen wird zur fortw�hrenden Selbstverleugnung. Ihr bleibt die Innigkeit f�r sich.

Die stille Selbstbehauptung eigener Gedanken und Gef�hle hat in der Religiosit�t und Kirche eine m�chtige Institution, welche die zwiesp�ltigen Sinne weihevoll bedeckt. Das bindet. Kerstin erf�hrt in einer katholischen M�dchenschule aber auch die Gewalt jener h�heren Ordnung, die Disziplin einer Weltherrschaft, die IHM zu Ehren und IHM zu Diensten sein mu�. Die geforderte seelische Unterwerfung mi�lingt. Kerstin ha�t dies alles, was sie lieben soll. Trotzig setzt sie sich selbst als Waffe gegen den rohen Geist ein. Das rituelle Fasten wird zu ihrem Hungern. "Die Nonnen haben mich mehr gelehrt, als sie wollten."

Kerstin verschlie�t sich, schweigt und ist mit ihrem Schicksal allein. Sie schreibt. Ihr Tagebuch wird zum Dokument d�sterer Gedanken. Die Protagonisten der Welt, ihre Lehrerinnen, verhalten sich ihr gegen�ber immer absurder. Als sie sich gegen eine Betreuerin nicht mehr erwehren kann, gibt sie dieser ihr Tagebuch. Denn darin stehe alles. Sie soll es lesen. Und sie liest.

Die M�hle beginnt zu mahlen. F�r die Betreuerin ist die 17j�hrige Kerstin �ber Nacht ein p�dagogischer Fall, f�r ihre Chefin ein medizinischer, f�r den Hausarzt ein psychiatrischer. In der Psychiatrie wird sie mit der Diagnose einer "krisenhaften Pubert�tsentwicklung" aufgenommen, vier Wochen sp�ter, nach permanenten "unterschwelligen" Insulininjektionen, entdeckt man schlie�lich "progrediente psychiatrische Auff�lligkeiten", weil sich die "negativistische Haltung der Patientin verst�rkt" habe. Und das wurde im Krankenbericht sogar begr�ndet: Kerstin hatte ihr Fr�hst�ck verweigert, "obwohl sie gar nicht schwer benommen war" (Zitate aus dem Krankenbericht). Schlie�lich – viele Milligramm Neuroleptika, viele Elektroschocks und Insulinschocks sp�ter – fixiert man sie mit der Diagnose "Endogene Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis".

Die Logik der psychischen Krankheitsbehauptung, die psychiatrische Diagnose, ist gnadenlos. Weil es nicht um erkennbare Verletzungen an bestimmten Gliedma�en oder Organen geht, geht es auch nicht um Sch�digungen, die einem Menschen an einer bestimmten Stelle zugef�gt worden sind. Der Mensch selbst wird zur Krankheit. Kerstin bekommt das ganze Arsenal psychiatrischer Heilkunst ab: Neuroleptika, Insulinschocks und Elektroschocks. Kaum der Kinderstube entwachsen erf�hrt sie die Stigmatisierung, die soziale und emotionale Isolation und die kontinuierliche L�hmung, Aufdunsung und schleichende Zerst�rung ihres K�rpers.

Sie "durchl�uft" zuerst mal die klassische Psychiatrie mit deren Glauben an die chemische Sinnesbeherrschung. Alle Dem�tigungen und Versperrungen werden ihr dort fast selbstverst�ndlich. Ihr Zustand wird immer schlimmer. Ihre Eltern greifen jetzt zur Alternative.

So ger�t sie als Patientin aus besserem Hause in die Binswangersche Therapie in der Schweiz, das Sanatorium Bellevue. Dort gibt es zwar keine Schocks und keine offenen Disziplinierungen mehr, daf�r aber jede Menge Neuroleptika. In einer sch�nen alten und abgelegenen Villa soll die isolierte Sinnfindung oder -stiftung durch eine therapeutische Familie von hilfsbereiten und interessierten Menschen stattfinden. Sie sp�rt, dass sie hier nicht mehr wegkommt, dass sie auf die feine Art vollst�ndig untergehen muss. Denn hier sind "alle Stunden des Tages therapeutisch gestaltet" (Binswanger-Werbung) und die breite und wabbelige Verst�ndigkeit entzieht den letzten eigenen Boden und die letzte wirkliche Beziehung auf andere.

Kerstin denkt in dieser sch�nen Welt nur noch ans Sterben. Manchmal will sie es, manchmal spielt sie damit. Kein offenes Fenster, keine Gifte oder Tabletten d�rfen f�r sie erreichbar sein. Dennoch schafft sie mehrere schlimme, fast erfolgreiche Selbstt�tungsversuche.

Sie sorgen sich hier wirklich sehr; Kerstin beherrscht das Spiel mit ihrer Sorge: "So gut wie ihr seid, so b�se werde ich nie. Wir spielen das Psychiatriespiel, gewinnen kann es keiner. Es ist eine neue Sprache, die ich gelernt habe". Als sie nach zwei Jahren in die Sozialpsychiatrie in H�cklingen verlegt werden soll, stellen sich ihre Betreuer die (selbsttherapeutische) Frage, "wie gro� das Loch werden wird, das Kerstin ... zweifellos hinterlassen wird."

Die Sozialpsychiatrie in H�cklingen, geleitet von dem fortschrittlichen Herrn Dr. P�rksen, ist moderne Psychiatrie. Weil das vielleicht als gutes Omen gilt und weil Kerstins Vater in dieser Gegend ein Haus erworben hat, welches Kerstin noch nicht mal gesehen hatte, und weil eine sozialpsychiatrische Unterbringung gemeindenah erfolgen soll, landet sie dort. Wer dies veranlasst hatte, wei� sie nicht. Die Betreuer oder Bezugspersonen oder Therapeuten dort sind aufgekl�rt und selbsterfahren, in Verhaltenstherapie oder Gestaltherapie geschult, �berh�uft mit Wissenschaft, Besprechungen und Konferenzen. Sie haben wenig Zeit, sind fl�chtig und menschlich �berfordert und scheuen deshalb den direkten Kontakt.

Die Gemeinden�he ist f�r Kerstin v�llig fremd. Sie kommt f�r zehn Tage auf die Geschlossene – f�r sie die H�lle von vereinsamten und verwahrlosten Menschen, die st�ndig mit irgendeiner Anmache aufeinander los gehen, h�chstens noch verwaltet von einem Team, das sich in seinem Schutzraum verkriecht.

Danach, in der Verhaltenstherapie, geht es liberal zu. Es wird erzogen, gelobt und bestraft. Aber haupts�chlich wird irgendetwas geplant und irgendetwas gearbeitet. Kerstins Geschichte entschwindet ihr. Das Zusammenrechen von Laub an irgendeiner Stelle mitten im Herbstwald kommt ihr v�llig sinnlos, das Dasein �berfl�ssig vor – Selbstverlorenheit inmitten einer Gruppe wohlmeinender und kritisch engagierter Betreuer. Aber die offene Form hat ihre Vorteile: Sie kommt an eine Schreibmaschine und bringt ihre Tr�ume und Gedanken, ihren Hass und ihre Verzweiflung zu Papier. "Ich schreibe mich aus der Anstalt heraus".

Und das ist dann auch ihr Weg. Sie st�bert in ihren Krankenakten und arbeitet auf. Sie findet ihre Sprache, schafft Literatur. Es entstehen neue Begegnungen. Sie fotografiert und teilt sich mit. Und das ist schwer genug. Die Wege sind verr�ckt, voller Zweifel und Erschrecken. Aber sie findet eine Adresse, ihr Phantom, die zu ihrem lebenden Tagebuch wird und sie sein l��t.

Das ist kein Happy-End – es ist hart erk�mpftes Eigentum am eigenen Leben. Dies ist in einer Welt, in der sich die Menschen haupts�chlich um das Gegenteil k�mmern, n�mlich um Besitzstand und Besitzerwerb, eine gewaltige menschliche Leistung. Die Gesundheit der "normalen Verh�ltnisse" beruht eben auf den F�higkeiten, die zum Existenzkampf taugen und nicht auf den Eigent�mlichkeiten des Lebens. Eigentum hat jeder an dem, was er ist, was er erarbeitet und was er geschaffen hat – zu Besitz aber kommt nur, wer etwas besetzen kann (z.B. eine Stelle, eine Beziehung oder Leib und Seele). Besitzen hei�t Besetzen und entspringt der Terminologie des Eroberungskrieges. Die ist der B�rse n�her als dem Menschen. Es werden dort ja nicht nur die Schicksale der Menschen, ihre Arbeits- und Konsumverh�ltnisse geregelt, sondern auch die Kulturen der ersten, zweiten und dritten Welt bestimmt, ganze Nationen und Gesellschaften erobert. Schlimm, wenn die Unangepa�theit an solche Verh�ltnisse zur Ausgrenzung und Zerst�rung von Menschenleben f�hrt. Wir haben sie n�tiger denn je.

Kerstin Kempkers Geschichte ist die Beschreibung verlorener Jahre, sinnlos und qualvoll vertaner Zeit – voll mit chemischen Keulen, Zerst�rung mit therapeutischen Schocks, therapeutischen �bungen und nicht enden wollender F�r-Sorge. Die Autorin klagt nicht an. Sie zeigt, wie es ist, dieses Gef�ngnis eines psychiatrischen Krankheitsbegriffs und seiner Mittel und Methoden. In ihrem Buch geht es nicht um die Frage des richtigen oder falschen Tuns, der besseren oder schlechteren Hilfe; es geht �berhaupt nicht um Fragen und Probleme der beruflichen Helfer und Experten, nicht um das Wenn und nicht um das Dann. Es kommt auch keine Expertin in eigener Sache zu Wort, sondern ein Mensch, eine Zeugin von Lebensvernichtung, welche dort beginnt, wo Herrschaft und Gewalt nicht erkannt werden.

Die logische Fatalit�t der Psychiatrie steckt in der Behauptung einer Machbarkeit von Heilung, dieser permanenten Heilserwartung, die den Alltag psychiatrischer F�rsorge durchzieht und die durch immer geschickter verabreichte und besser gemischte Mittel vorgegaukelt wird. Sie ist auch in ihrer modernen Variante, der sogenannten Sozialpsychiatrie, nicht anders – es hat sich in ihr lediglich der (wohlmeinende) Pragmatismus gegen die dogmatische Begrifflichkeit der klassischen Psychiatrie durchgesetzt: Gut ist, was zur Symptomreduzierung Wirkung hat mit m�glichst wenig Nebenwirkung. Nach wie vor erscheint ein Mensch, der nicht mitkann, der ausgeflippt ist ("die Kontrolle �ber sich" verloren hat), als Gefahr, die schnell beherrscht werden mu�. Was so unmittelbar von den W�rdentr�ger der Wissenschaft nicht begriffen werden kann, bedroht sie selbst. Denn f�r sie erscheint der ungez�gelte Sinn oder Unsinn wie ein Gespenst aus der Mottenkiste der menschlichen Beziehungen, das niedergemacht werden mu�, bevor es sich zu erkennen geben kann. So bek�mpfen die Psychiater letztlich ihren eigenen Unverstand – aber leider nicht bei sich selbst.

Dies teilen sie auch gerne denen, die es anders verstehen, als Moral ihres therapeutischen Zeigefingers mit, der sich mit der Verlassenheit der Betroffenen ziert und sich hierdurch mit Verantwortlichkeit �ber deren Schicksal und Leiden aufbl�ht. Weder Verantwortung �ber andere noch Selbstverantwortung sind die Begriffe, um die es gehen kann, wenn es um das Leben selbst geht, denn solche Verantwortung involviert immer auch die Macht der Machbarkeit – besonders, wenn jeder Widerspruch als Verantwortungslosigkeit diffamiert wird.

"Mitgift" ist ein wichtiges Buch und ein sch�nes, Literatur und Dokumentation in einem. Es ist ein Buch, das Hoffnung macht auf eine menschliche Befreiung aus der Selbstbefangenheit wirklicher Ohnmacht und Verzweiflung. Denn es zeigt, dass es in der Tat einfacher ist, diese Verzweiflung in ihren abstrusen Formen zu leben und sich damit wenigstens der Entzweiflung zu n�hern, als sich den Apparaturen der Lebensbeherrschung zu unterwerfen. Es wird das Sch�nste sein, wenn diese Geschichte all denen Mut machen kann, die schon bereit waren, sich aufzugeben. Ich hoffe, dass es zugleich Ansto� und Ermunterung f�r die Schaffung von antipsychiatrischen Einrichtungen ist. Kerstin Kempker arbeitet heute im Weglaufhaus in Berlin. Hilfreich f�r ein Leben ohne Psychiatrie sind auch viele andere B�cher aus dem Antipsychiatrieverlag von Peter Lehmann (www.antipsychiatrieverlag.de).

Wolfram Pfreundschuh

Kerstin Kempker: Mitgift. - Notizen vom Verschwinden 208 Seiten, 34 Abbildungen, ISBN 3-925931-15-5, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2000. Siehe http://www.antipsychiatrieverlag.de/verlag/titel/mitgift.htm