Wolfram Pfreundschuh (14.01.2011)

Das heillose Geschäft mit dem Heilsversprechen

Dass es um den Umgang mit der Gesundheit bzw. Krankheit in Deutschland schlecht bestellt ist, merkt man nicht nur daran, dass zur Versorgung der Bevölkerung, besonders der Landbevölkerung, immer weniger Allgemeinärzte zur Verfügung stehen und dass ihre Behandlung zunehmend teurer wird. Man muss es auch nicht nur an der Abstufung der Heilmethoden je nach Kassenlage und nicht nur an den Wucherpreisen der Pharmaindustrie registrieren. Man erkennt es inzwischen besonders an einem Boom von spezielleren Angeboten in einer Szene von Wellness-Angeboten und Heilpraktikern, die vor allem esoterische Techniken und Ideologien einsetzen, um mit relativ wenig Aufwand und Risiko an dem großen Kuchen des curativen und regenerativen Gesundheitsmarktes teilzuhaben, einem Markt, der eine Gesundheit im Gesamtpaket verspricht. Weil Esoterik zudem ein besonders persönliches Betreuungsverhältnis ist, ein besonders tiefsinniges Eingehen auf die besondere Persönlichkeit, vermehren sich diese Praxen seit längerem schon weit überdurchschnitlich. Denn damit lässt sich vor allem auch schnell viel Geld machen. Esoterik verspricht denen, die es sich leisten können eben auch viel mehr als nur Heilbehandlung: Heilung durch höhere Energien und Assoziationen, die sich als unmittelbare Heilerfahrung über ein evidentes Körpererleben wie von selbst einstellt und von daher als eigene Heilkraft des Körpers sich anfühlen lässt, eine Kraft, die allerdings ohne bestimmte Methodik nicht aufzuspüren ist und die oftmals nur aus der Interpretation objektiv erzeugter Gefühle besteht.

Um dies als Heilbehandlung anbieten zu können, bewerben sich unter der Bezeichnung Heilpraktiker inzwischen immer mehr Anbieter auf einem gigantisch gewordenen Gesundheitsmarkt, die sich für befähigt halten, heilsame oder lindernde Behandlungen für das Leiden und Gebrechen von Menschen ausüben zu können und die sich auch gerne als Alternative zur klassischen Medizin verstehen. Hierfür reicht eine Überprüfung durch das Gesundheitsamt aus, die feststellen soll, dass der Bewerber „der Volksgesundheit keinen Schaden zufügt“, wie es das Heilpraktikergesetz von 1939 in der zeitgemäßen Auffassung und Sprache der Nationalsozialisten formuliert. Um das sicherzustellen wird aber nicht überprüft, zu was die Bewerber befähigt sein wollen, sondern das, was sie meist von sich weisen: Das Wissen über die klassische Medizin - bzw. Psychologie im Falle einer psychotherapeutischen Ausrichtung. Sie müssen lediglich mindestens 25 Jahre alt sein, einen Hauptschulabschluss und keinen schlechten Leumund haben und durch Antworten auf vorgegebene Fragen Kenntnis von dem belegen, was die Grundlagen der Humanmedizin bzw. Psychologie sind. Auch wenn sich einige Privatschulen als Ausbildungsstätten für Heilpraktiker aufführen, weil sie einen eigenen sehr lukrativen Markt beliefern wollen, ist festzuhalten: Zum Heilpraktiker kann man gar nicht ausgebildet werden, weil es kein Ausbildungsberuf ist und weil dessen Tätigkeit gerade ohne bestimmte Inhalte versehen ist. Er soll lediglich  eine Bezeichnung für ein Angebot sein, das im Einzelnen völlig beliebig ausgeführt werden kann und frei verpreist und berechnet wird.

Heilpraktiker gibt es schon lange, ohne dass sie sich esoterisch schmücken mussten. Und für die war eigentlich diese Berufsbezeichnung geschaffen worden, insofern es keine andere ihnen entsprechende Berufsform gibt. Es sind z.B. Chiropraktiker, Kunsttherapeuten, Mesotherapeuten, aber auch Ärzte, Psychologen, Zahnärzte, Krankenpfleger und Hebammen, die ihrer Tätigkeit eine besondere Form des Angebots beigeben wollen. Aber es versammeln sich darunter auch Homöopathen, Kinesiologen, und Wunderheiler, die sehr dubiose Heilmethoden anwenden. Es geht bei unserem Thema also nicht um Heilpraxis überhaupt, sondern nur um die mit der besonderen Dimension esoterischer Methoden und Stoffe ausgestatteten Heilangebote.

Die besondere Heilkunde

Subjektiv genommen sind auch unter den esoterisch ausgerichteten Heilpraktikern und Heilpraktikerinnen sicherlich viele wohl meinende und auch erfahrene Menschen am Werk, die vor allem von einem Placebo-Effekt ihrer Behandlungen zehren. Viele bemühen sich auch um Zeit und Verständnis für ihre Klienten, denn das macht einen wesentlichen Teil ihres Angebots aus. Aber objektiv ist das Berufslabel des Heilpraktikers ohne explizite Wirkungskriterien und ohne institutionalisierte wissenschaftliche Kontrolle zum Schutz derer, die sich diesem Heilberuf anvertrauen. Die Konkurrenz der Angebote auf einem Massenmarkt mit einem Umfang von weit über 20 Milliarden Euro hat ihn zu einer Selbstdarstellung getrieben, die auf höhere Begabung oder besondere Sensibilität verweisen muss.

Esorterik hat auch schon jenseits der Heilberufe einen immer weiter ausufernden Markt (siehe "Esoterik-Beratungen"). Der esoterischer Einschlag suggeriert selbst schon eine besondere Behaglichkeit, die auch in diesen eine Sphäre des besonderen, des erhabenen Lebensverständnisses vermittelt damit eine höhere Dimension der Behandlung verspricht, die viele anlockt, die mehr wollen, als die knapp kalkulierend eingerichtete Medizin der Krankenkassen versprechen kann, und die deshalb auch mehr  bezahlen, als über Kassenabrechnungen möglich wäre. "Heilpraktiker" ist vor allem eine Berufsbezeichnung für Selbstberufene, die durch die Fähigkeit, unmittelbar Einfluss auf die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen oder auf seine Lebensplanung oder Entscheidungen zu bewirken oder seinen Körper zu einer höheren Selbstwahrnehmung zu stimulieren, eine besondere Begabung verspüren. Objektiv konkurrieren Heilpraktiker zum Teil auch gegen Ausbildungsberufe wie z.B. Physiotherapie, Medizin, klinische Psychologie, Familientherapie und andere. Aber gerade durch relativ beliebige Vermengungen von irgendwelchen Heilverfahren und Heilvorstellungen aus dem Reich der Esoterik, die dann als besondere Intuition erscheinen können, bekommen ihre Angebote erst den besonderen Kick: Was in der sogenannten Schulmedizin der vermehrte Einsatz teuerer Maschinen für Privatpatienten darstellt, macht bei Heilpraktikern der besonderen Art eben der besondere Kokolores. Nicht die Handlung selbst, nicht ihre materielle Praxis, sondern ihre Begründung verschafft den aparten Tiefgang. Versprochen wird eben eine besondere Energieform, die als Heilkraft aktiviert werden soll, wenn die Wässerchen und Globuli und Wallungen und Gedanken zugeführt werden. Nicht ihre Stoffe sollen heilen, sie sollen eine Heilkraft lediglich anstoßen, die im Grunde geistig sei, signalisieren, wogegen diese sich zu richten haben. Solche Energie stellt das Kernelement esoterischer Erfahrung und Heilung dar, ihr "Geistwesen", auch wenn das oft wieder durch ihre Darbietungsform als Heilmittel simplifiziert und kaschiert wird. Aber gerade das macht die Sache einfach: Geistig bestimmte Heilmittel lassen sich nicht materiell überprüfen. Sie sind keine Hilfsmittel für eine körperliche Gesundungsarbeit, sondern lediglich Träger einer höheren Subjektivität, welche an deren Stelle tritt, den Körper mit einer heilsamen Energie von eigener Natur auffüllen soll.

Es wird solche Medizin dann gerne auch als Naturmedizin aufgefasst - Homöopathie als quasi besonders feinstoffliche Naturmedizin - und damit ein besonders sensibles Körperverständnis vorgetäuscht, auch wenn es sich nur übernatürlich begreifen lässt. Aber auch Naturmedizin war schon immer Teil der wissenschaftlichen Medizin und erst durch die Industrialisierung der Pharmazie zu einem eigenständigen Angebot geworden. Naturmedizin wurde zu einer eigenen Disziplin, als die industriell abhängig gewordenen Medizin sich zunehmend als Schulmedizin aus einem rein funktionalen Blickwinkel heraus mit Krankheit als einzelnes isoliertes Phänomen befasste und den erkrankten Menschen oft auch nur als Symptom wahrnahm und ihn mit höchst isolierten Methoden und Mitteln versorgte. Die abstrakte Darstellung der naturwissenschaftlich aufgefassten körperlichen und natürlichen Zusammenhänge hatte die "Schulmediziner" schließlich auch oft selbst abstrakt gemacht, unansehnlich in ihrem Eingehen auf den Menschen und auch fehlerhaft in ihren allein biochemisch oder physiologisch-funktional gewonnen Erkenntnissen. Dass Menschen nicht so einfach zu verstehen sind und also auch ihre Krankheit damit nicht wesentlich abstrakt zu begreifen ist, war offenkundig geworden. So entwickelte die Naturmedizin eine oft weit erfolgreicher und menschlichere Gedankenwelt um das Krankheitsgeschehen.

Das schien dann auch leichter und ungefährlicher zur Anwendung zu kommen und wurde deshalb von der praktischen Heilkunde, die mehr oder weniger von besonders begabten Laien ausgeübt wurde, schließlich auch "kopiert", um dem eigenen Tun den Glanz einer direkten natürlichen Hilfe in übernatürlicher Dimension zu verleihen. Man entdeckte die unglaubliche Wirkung chemisch nicht mehr nachweisbarer Stoffe, eben der "Feinstoffe". Und die damit etikettierten Fläschchen entwickelten ihren eigenen Reiz (siehe hierzu den Artikel Homöopathie auf Wikipedie). Hinzu kamen andere esoterische Einsichten in die Allgewalt kosmischer Energien, wie sie im alten China und Indien geläufig waren und boten der Fantasie neue Dimensionen, deren Wirkung dann auch beschrieben und in einer neuen Art von Körpertherapie, der sogenannten evidenten Körpertherapie, aufgeführt wurde. Energie spielt dabei immer die grundlegende Rolle, die in den Menschen und Tieren in gesunder oder kranker Weise materialisiert sein könne, eben "verspannt" oder ausgeglichen. Die Energieströme waren auf Atlanten des Körpers in Meridianen kartografiert und auch für die Akupunktur übernommen, - auch heute noch, nachdem längst bewiesen ist, dass die Karte mit ihren festgelegten Akupunkturpunkten mit der Wirkung der Akupunktur überhaupt nichts zu tun haben kann, weil jede Platzierung der Nadeln denselben Effekt hat (1). Doch die Kunde als solche beeindruckte und war weitaus anschaulicher als die Lehrbücher der westlichen Medizin. Indem die Menschen sich den Kräften des Kosmos überlassen konnten, wurden sie als Subjekte ihres Leidens entlastet, musten nicht wirklich um ihre Heilung bemüht sein, sie erarbeiten. Heilung war zu einem Vorgang von kosmischer Dimension geworden und also selbst so objektiv wie die Gründe, die in sie hineingelegt wurden. Das verschaffte vor allem ein Gefühl der Geborgenheit in einfachen Anschauungen, in das Heil einer inneren Spriritualität, die sich in jedem Körper darstellt als Energieform einer Reinheit, die letztlich aber nur objektiv und rein geistig sein könne, Geistwesen aus dem Jenseits des menschlich Erkennbaren. Esoterik wurde zu einer Art Ersatzreligion für Hilfesuchende wie auch für Beglückungssüchtige. Und gerade in dieser Einheit von kurativer Wirkung und persönlichem Heilsversprechen breitete sie sich auch in den entsprechenden Disziplinen aus.

Diese Entwicklung hat inzwischen längst eine quasi-professionelle Stufe erreicht und kursiert gerne als "Alternativmedizin", mit der vielerlei Probleme zumindest irgendwie thematisiert werden. Die esoterische Überhebung gegen das materielle Leben hat schon vielerlei Gestalt bekommen, die naturgemäß eigentlich nicht existenziell sein kann (2). Sie tritt aber als eigene Szene auf, die inzwischen auch sehr um ihre Existenz auf einem  harten Markt kämpfen muss. Alternative Heilberufe müssen diesen Widerspruch ertragen und passen ihre Selbstdarstellung dem an. Von der praktischen Seite eines Heilberufs lässt sich das auch machen. Heilung setzt schließlich nur Gebrechen voraus, und die gibt es en masse.

Die Belastungen des einzelnen und besonders des vereinzelten Menschen haben stark zugenommen. In einer Welt, worin sich Konkurrenz durch keinerlei Wirklichkeit und Bewährung mehr eingrenzen lässt, ist Stress und Verspannung zur gewöhnlichen Begleiterscheinung von Berufstätigen und auch von den Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft und Industrie geworden. Die Ursachen hierfür sind tatsächlich als Energiefragen zu beschreiben, wenn man von den zugrunde liegenden Problemen mit der Geldverwertung einmal absieht. In dieser Absehung erscheint alles nur noch als ein Problem der eigenen Kraft und Ausrichtung, der Bewältigung eines Alltags, der keinen unmittelbaren Sinn mehr macht, der keine bestimmten Konflikte mehr hat, die auch in bestimmter Weise aufzuheben sind. Die abstrakte Beziehungswelt des Geldes befördert daher natürlich auch abstrakte Methoden und Sinnbewältigungen. Und damit lässt sich inzwischen wiederum sehr gut Geld machen (3), und zwar nicht nur durch Heilberufe, sondern auch als Glücksbringer oder als beides in einem, sozusagen im Doppelpack: Heilung durch Beglückungsbotschaften mit praktischer Übung, - ein Heilsversprechen, das nicht nur curativ, sondern zugleich sinnstiftend ist. Man muss alles einfach etwas anders sehen: Die Gebrechen der Menschen sind nicht nur Leiden aus den existenziellen Mängel ihres Lebens heraus, Überlastung, Überforderung,  Kränkung, Existenzangst, Entwertung usw. Sie sind zugleich und vor allem ihr Fehler, ihre Unfähigkeit, sich mit ihrem Leben abzufinden und sich in seinem kosmischen Umfang ihm auch hinzugeben, sich ihm zu öffnen und damit sich ihm und seiner Heilkraft zu überlassen. Man muss daher die Wahrnehmung der Menschen zu einer Selbstwahrnehmung bringen, mit der sie ihre Spannungen auflösen und sich den Energien ihres Körpers an Ort und Stelle seines Leidens überlassen können. Das ist dann wirklich das etwas andere Heilungsangebot, Heilung durch ein Glücksversprechen, das Heilungsversprechen der anderen Art: Heilsversprechen mit hohen Erwartungen an eine Objektivität, die in allem, was sich regt und lebt, sich inszenieren lässt. Es ist das Versprechen einer ungeheuerlichen Entlastung für die Menschen, ein Versprechen, das auch süchtig machen kann in dem Maß, wie es sich nicht einlösen lässt.

Das große Geschäft mit der Esoterik

Mit den mühevolleren Expertisen herkömmlicher Untersuchungsmethoden und Analysen, mit der Erforschung  der wirklichen Krankheitsursachen und der darauf begründeten Therapie befassten professionelle Hilfeleistung konkurrieren inzwischen in vielen gesellschaftlichen Bereichen die zum How-to-do gewordenen Lebensberatungen und Instruktionen esoterisch begründeter Interpretationen. Wirkliche Zusammenhänge werden immer mehr ausgeblendet, Gründe interessieren immer weniger. Dafür hat man keine Zeit oder auch keine Lust. Körper und Geist? Einerlei. Das alles ist nur Träger höherer Befindung über gefühlte Unausgewogenheiten, gestörte Energie, die ins Lot gebracht werden müsse. War es früher mal eine Frage wert, ob ein psychisches Problem somatisiert ist, wird heute gerne jedes körperliche Problem psychologisiert. Die Herausführung einer Problematik aus ihrer verbackenen psychosomatischen Form zu einer bestimmten Infragestellung und Gefährdung, die Erarbeitung von Bewusstsein und Sprache, Erläuterungen und Weiterführungen durch Auseinandersetzung und Wissen, ist geradezu verpönt. Körpertherapeutische Techniken sind gängig. Und diese werden dafür jetzt zugleich auch als geistige Heilmethoden aufgefasst oder auch lediglich als Medium egozentrischer Vervollkommnung begriffen.

Das Gemansche mit den verschiedensten Ansätzen aus systemischer Psychologie, Körpertherapie und Esoterik wird als Erfolgsrezept angepriesen. So wirbt zum Beispiel ein Licht-Gesundheit-Energiezentrum im Internet:

„Sie finden bei uns Kinesiologie, Systemische Aufstellungen & mehr

in Form von Seminaren, Ausbildungen, Einzelberatung, Firmenberatung

Unsere Themen sind:

• Wie Sie emotionalen, mentalen & physischen Stress abbauen können und dadurch eine bessere Gesundheit erreichen.  

• Was Sie tun können, um mehr Energie & Lebensfreude zum täglichen Leben zur Verfügung zu haben.

• Wie es gelingt, einschränkende Muster in Erfolg zu verändern.

• Wie Sie Ihre Potenziale besser entwickeln können.

• Welche Möglichkeiten es in Bezug auf Lernschwächen gibt.

Und viele spannende Wege zu Ihrer Lebensfreude!

Erkennen Sie, dass Sie viele Möglichkeiten haben, sich selbst, Ihre Gesundheit und Ihre Wahrnehmung des Lebens zum Positiven zu verändern. Mit dem Ziel, mehr Licht in Ihr Leben und auf diesen Planeten zu bringen.“

http://www.licht-gesundheit-energie.de/cms/

Das ist nicht gerade bescheiden. Es ist klar: Hier blüht ein großes Geschäft. Das wissen vor allem auch die Privatschulen für Heilpraktiker zu schätzen, die Fernkurse oder Abend- oder Wochenendkurse für das Pauken des Abfragewissens anbieten, das die Gesundheitsämter hören wollen, bevor sie die Heilpraktiker-Zertifikate vergeben. Sie sind der große Motor des neuen Geschäfts mit dem praktischen Heil und bieten zugleich auch gerne selbst Instruktionen zu esoterischen Methoden und Gebräuche an (wie z.B. die Paracelsus-Schulen). Man hat sich längst auf den Boom des neuen Massenmarkts eingerichtet und ist mit seiner Ausstattung an Methoden und Immoblien längst bestens gerüstet. Nur noch um die Probanten muss geworben werden, die auch hinreichend viel Geld investieren wollen. Aber selbst das Arbeitsamt hat den neuen Pool an Arbeitsplätzen entdeckt und trägt zur Finanzierung von Schulungen - z.B. zur astrologischen Psychologie – bei, mit Steuergeldern natürlich. Irgendwer muss es ihm gesteckt haben. Und die Studienleiterin Lydia Heymann von der Münchner Paracelsus-Schule sieht auch schon als wichtigste Perspektive auf der Titelseite ihrer Website die unerschöpflicher Bereicherungsmöglichkeit und wirbt damit frank und frei Menschen in ihren dubiosen Markt:

"Die Billionen Euro der Zukunft liegen in der Gesunderhaltung und der Vorsorge. Besonders wichtig sind dabei auch, neben allen bestehenden Heilberufen, viele Formen der Energie- und Berührungsarbeit sowie geistiger Heilformen".

Esoterische Heil- und Wellnessangebote:

Was ist Kinesiologie (Dr. H. Berges)?
http://www.youtube.com/watch?v=9O2ivOffpik&feature=fvw
Kinesiologischer Muskeltest:
http://www.youtube.com/watch?v=qKceZce92Eo&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=v3vwDKVWLpg&feature=related

Esoterische Heilberufe: Harmlos oder mit versteckter Wirkung?

Der Markt esoterischer Angebote ist natürlich auch daran interessiert, Menschen von der herkömmlichen Medizin abzuziehen, zumindest in den Bereichen, wo das möglich ist. Und seine Institutionen und Unternehmungen sind zudem auch heftig daran interessiert, Krankheitsbewusstsein dort zu erzeugen, wo die Menschen noch relativ unbekümmert sind, wo sie nicht ihre Gebrechen sondern ihr bloßes Unwohlsein auflösen wollen – oder auch, wo sie die Hoffung auf Heilung anderswo aufgegeben haben oder aufgeben mussten (4).

Dafür aber werden Aufmerksamkeiten erzeugt, die nicht unbedingt dem beanspruchten „Ausgleich“ dienlich sind. Ist erst mal ein Problem im Körper lokalisiert, das an Ort und Stelle auch aufgelöst werden soll, dann entsteht oft so etwas, wie eine Fokussierung auf ausschließlich diese Stelle, weil der Ort selbst für das Ganze stehen soll. Alle Gefühle für Störungen werden in ein und dasselbe zurückgeführt. Und so wird ein Phänomen zum absoluten Phänomen. Es wird ein intrinsischer Zirkel der Selbstwahrnehmung aufgebaut, um die Notwendigkeit einer Betreuung zu verlängern oder gar zu verewigen. Die Somatisierung wird total und fügt auch andere Einwirkungen in diese Totalität ab. Wenn dann z.B. eine mit obskuren Methoden gerade mal erkannte Verstrahlung oder Vergiftung oder Muskelspannung oder Verwerfung auf alles bezogen sein soll, was den Menschen bewegt, werden deshalb auch alle Beziehungen auf dieses Phänomen hin konzentriert. Es ist nirgendwo sichergestellt, ob solche „Therapie“ nicht sogar erst die Krankheit erzeugt, gegen die sie vorgehen will. Die Psyche ist da ungemein flexibel, das wissen z.B. Psychologen, die sich mit Hysterisierungen auskennen. Ihre Verschiebungen und Projektionen finden in esoterischen Interpretationen ein lebhaftes Wirkungsfeld. Man mag darüber streiten, ob und wo Esoterik den Menschen unmittelbaren Schaden zufügt. Klar ist, dass sie das Heraustreten aus einem Problem, das unbefangene Forschen nach seinen Ursachen behindert und dass ihre sinngemäße Wirksamkeit nirgendwo wirklich erwiesen ist.

Ich sprach hierüber mit Colin Goldner, einem klinischen Psychologen, der auch als Esoterik-Forscher bekannt ist und für das Forum kritische Psychologie bei der Aktion für Geistige und Psychische Freiheit Bundesverband Sekten- und Psychomarktberatung e.V. arbeitet:

Innerhalb der Heilpraktiker-Szene gibt es mehr oder weniger deutliche Fronten zwischen den mehr handwerklich ausgerichteten und den eher esoterisch ausgerichteten Heilberufler. Sie spielen in dieser Auseinandersetzung eine gewichtige Rolle als Grenzmarke zwischen beiden. Was meint darauf bezogen esoterisch? Ist das immer auch okkultisch oder was ist der Unterschied hierzu? Was ist Esoterik?

Goldner: Der Begriff Esoterik bezeichnet ursprünglich mystisches oder okkultes Geheimwissen, wie es in den Religionssystemen sämtlicher Kulturkreise zu finden ist. Nur besonders Eingeweihte - Priester, Schamanen, Druiden usw - haben Zugang zu diesem innersten Kern der jeweiligen Lehre, aus dem sie auch ihre Macht herleiten..

Heute gilt der Begriff Esoterik - in sozusagen säkularisierter Form - als Bezeichnung für ein weites Spektrum an Heils- und Weltanschauungslehren, deren Gemeinsames in ihrer Abkehr von Wissenschaftlichkeit, Plausibilität und Vernunft liegt; oder andersherum formuliert: die auf alles abstellen, was nur irgendwie spiritistisch, mystisch, okkult oder schlicht antirational daherkommt.

Das Gros der Heilpraktiker hierzulande arbeitet insofern esoterisch, sprich: mit Praktiken, die jenseits von Wissenschaftlichkeit und Plausibilität angesiedelt sind, sprich: deren Theorie keinerlei nachvollziehbaren Sinn macht und die auch in der Praxis über keinerlei tragfähigen Wirkbeleg verfügen, außer über den allemal möglichen Placeboeffekt.

Heilpraktiker rekrutieren ihr Klientel in der Regel unter Menschen, die in der ein oder anderen Form Alternativen zur wissenschaftlichen Medizin suchen, die ihnen als unpersönlich, apparatebezogen, chemielastig usw. erscheint. Heilpraktiker dagegen versprechen persönliche Zuwendung, ein "ganzheitliches" statt symptomorientiertes Herangehen, sowie "sanfte", "natürliche" und in jedem Falle "chemie-" und damit vermeintlich "nebenwirkungsfreie" Heilmittel. Aus Apothenkenrundschauen, Hausfrauenpostillen und Lifestylemagazinen sind ihnen dutzende von Verfahren geläufig, die sie für besonders natürlich halten: Alternativheilkunde und Naturheilkunde werden insofern häufig ineinsgesetzt.

Tatsächlich haben die so genannten Alternativheilverfahren mit Naturheilkunde überhaupt nichts zu tun. Zu den wirklichen Naturheilverfahren - allesamt Teil der Schulmedizin - zählen Luft- und Lichttherapie, Wasseranwendungen, Entspannungs- und Bewegungsübungen, bewußte Ernährung und allgemein "gesündere Lebensführung"; pharmakologisch auch der Einsatz wirkbelegter Pflanzenpräparate.

Im Gegensatz zu diesen bewährten Naturheilverfahren können die Alternativheilverfahren keinerlei tragfähigen Wirkbeleg vorweisen, ein Umstand, der mit Hilfe suggestiver Begleitbegriffe wie "unkonventionell", "komplementär" oder eben auch "ganzheitlich" vertuscht wird. Wären die Alternativheilverfahren wirkbelegt, wären sie längst Teil der Schulmedizin.

Heilpraktiker, die sich als eher "handwerklich" tätig verstehen, führen besagte Naturheilverfahren im Sortiment - Luft- und Lichttherapie, Entspannungs- und Bewegungsübungen oder auch den Einsatz wirkbelegter Kräutermedizin - Verfahren also, die es beim naturheilkundlich ordinierenden Schulmediziner auch gibt, und zwar qualifizierter und über die Kasse abrechenbar - wenngleich nicht mit der womöglich gewünschten persönlichen Zuwendung)

Bei vielen Heilpraktikern finden sich Schnittmengen pseudotherapeutischer Alternativheilverfahren und wirkbelegter Naturheilverfahren. Mir persönlich ist kein handwerklich tätiger Heilpraktiker bekannt, der nicht auch esoterische Praktiken im Angebot führt. Kaum ein Heilpraktiker, um ein Beispiel zu nennen, bei dem es nicht das Flaggschiff aller Pseudoheilverfahren gäbe: die Homöopathie.

Zur Zeit hört man Sie auch auf Radio Lora in München und Umgebung. Können Sie mal sagen, worüber Sie da sprechen - vielleicht auch mit ein paar Stichworten dazu?

Goldner: Es geht um eine Aufklärungsreihe, die sich mit den weitestverbreiteten Verfahren der sogenannten Alternativheilkunde befasst: von Akupunktur, Bach-Blütentherapie und Craniosakraler Arbeit über besagte Homöopathie, Neuraltherapie und Schüßler-Salze hin zu Spagyrik, Urin- oder Zytoplasmatischer Zelltherapie. Jeden Mittwoch wird eines dieser Pseudoheilverfahren vorgestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Dass sich da ein paar Heilpraktiker aufregen, ist verständlich aber unerheblich: mir geht es um die Aufklärung rat- und hilfesuchender Menschen, die wissen sollen, worauf sie sich bei der Konsultation eines sogenannten Alternativheilers oder Heilpraktikers einlassen - auf welch zum Teil hanebüchenen Unfug wie Aura-Healing, Bioresonanztherapie oder Clustermedizin. Die wenigsten Menschen, die sich derlei Pseudoheilpraktiken aufschwatzen lassen, wissen, was genau es damit auf sich hat. Die wenigsten wissen auch um die fachlich indiskutable Qualifikation von Heilpraktikern, die nicht die geringste medizinische Ausbildung durchlaufen müssen, um sich an kranken Menschen zu schaffen machen zu dürfen. Mir geht es um bestmöglich Aufklärung im Gesundheitswesen - übrigens auch im Bereich der wissenschaftlichen Medizin -, das Geschäft der Heilpraktiker interessiert mich dabei wenig. Wenn die sich aufregen, ist das Bestätigung meiner Arbeit.

Ist die esoterische Heilbehandlung nicht auch nützlich, z.B. zur Stressreduktion durch Massagen und Entspannungsübungen? Mindert nicht auch sie Leiden? Was ist daran eigentlich bedenkenswert? Was unterscheidet z.B. eine physiotherapeutische Hilfeleistung von der eines esoterisch ausgerichteten Heilpraktikers? Selbst innerhalb der Anwendungen wie z.B. der Kinesiologie gibt es ja physiologische und esoterische Ansätze. Kann man sie voneinander unterscheiden und als unterschiedliche Angebote erkennen?

Goldner: Es spricht überhaupt nichts dagegen, bei kleineren Beschwerden und Mißbefindlichkeiten, auch zur Vor- und Nachsorge - und selbstredend zur Stressreduktion und Entspannung - die wirkbelegten und erprobten Verfahren der Naturheilkunde einzusetzen. Abzuraten ist indes von sämtlichen Verfahren und Praktiken der sogenannten Alternativheilkunde, die, wie gesagt, mit Naturheilverfahren überhaupt nichts zu tun haben. Die physiotherapeutische Hilfeleistung an sich - das heißt: die Technik an sich - unterscheidet sich natürlich nicht, ob sie nun von einem Esoteriker oder Nicht-Esoteriker ausgeübt wird. Der Kontext, in dem das Ganze abläuft, dagegen schon, wenn etwa ein Therapeut auf irgendwelche "Energien" abstellt, die in irgendwelchen Kanälen oder Meridianen fließen sollen, die es aber tatsächlich gar nicht gibt. Im Übrigen sind Heilpraktiker nicht befugt zur Ausübung von Physiotherapie, das ist nur medizinisch qualifiziertem Personal mit dreijähriger Vollzeitausbildung erlaubt, zu denen die Heilpraktiker bekanntlich nicht zählen.

Die wichtigsten Methoden der esoterischen Heilpraxis, besonders die verschiedenen Techniken der Kinesiologie, gelten im naturwissenschaftlichen Verständnis als unwissenschaftlich und teilweise auch von der Aussage her als falsch und widerlegt. Die esoterische Alternativmedizin besteht aber darauf, dass rein naturwissenschaftliches Verstehen zu einseitig sei, bzw. für eine ausgewogene Gesundung nicht hineiche, und nimmt aus der chinesischen Medizin Inhalte der Meridian- und Elementenlehre hinzu, die allgemeinere Bezüge zu einer Lebensenergie - z.B. das daoistische Qi - hinzunehmen, wie sie z.B. auch bei der Akupunktur grundlegend sind. Ist es nicht richtig im Sinne eines ganzheitlichen medizinischen Verständnisses auch solche Organ übergreifende Beziehungen hinzuzunehmen, wie das teilweise ja auch schon durch die Einbeziehung chinesischer Techniken in die Humanmedizin und sogar in die Tiermedizin gemacht wurde?

Goldner: Wenn's denn so wäre, dass die Bezugnahme auf irgendwelche anderen Heilersysteme irgendeinen Vorteil brächten, wäre ja nichts dagegen einzuwenden. Nur ist das halt nicht der Fall: wer von Energieflüssen spricht, von daoistischem Qi oder Ch'i, und das nicht nur metaphorisch meint, sondern diagnostische Schlüsse aus dem Verlauf dieser Energie zieht und direkten Einfluß darauf nehmen will, muß zumindest nachweisen können, dass es sie überhaupt gibt. Und da sieht es eben sehr düster aus: bislang gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die von der Traditionellen Chinesischen Medizin postulierten Energien und Energiebahnen, in die man dann Akupunkturnadeln stecken kann, tatsächlich existieren. Ein Verfahren muß nicht in allen Details erklärbar sein, aber es muß einen belegten spezifischen Effekt haben, und man muß über die Nebenwirkungen Bescheid wissen, um Nutzen und Risiken abwägen zu können. Einfache Behauptungen oder Anektdoten oder der simple Verweis auf eine angeblich lange zurückreichende Tradition wie bei der Chinesischen Medizin oder bei Ayurveda reichen nicht aus. Ein Heilverfahren oder ein Heilpräparat muß zumindest mit Blick auf Wirkung und Nebenwirkung wissenschaftlichen Kriterien genügen, so wie das bei jedem Aspirin zu verlangen ist.

Im Übrigen sagt der Umstand, dass einige der Alternativheilverfahren, wie etwa die Akupunktur, mittlerweile auch Eingang in die Schulmedizin oder die Veterinärmedizin gefunden haben, gar nichts. Alle ernstzunehmenden Wirksamkeitsstudien besagen, dass gezieltes Setzen der Nadeln auf vermeintliche Energiemeridiane und beliebiges Setzen der Nadeln an irgendwelchen anderen, also "falschen" Stellen des Körpers absolut gleichwertige Resultate zeitigen. Dass das Ganze überhaupt irgendeinen Effekt hat, dürfte darin begründet sein, dass durch die Nadelung stimmungsaufhellende Serotonine und schmerzlindernde Opioide freigesetzt werden. Auf keinem Fall jedoch hat diese gänzlich unspezifische Wirkung mit irgendwelchen Meridianen oder Akupunkten zu tun.

Der Boom esoterischer Heilpraxis liegt wohl erst mal an der Zunahme negativer Einwirkungen auf die Menschen, Zunahme von Stress, psychischer Belastung im zwischenmenschlichen Bereich und Lebensängste? Was suchen die Leute aber konkret, die Geld dafür hinlegen, dass sie solche Behandlung bekommen, was macht das besondere des Angebots esoterischer Verfahren gegenüber anderen wie z.B. Physiotherapie, Eutonie oder dergleichen aus?

Goldner: Der große Zuspruch, den die Alternativheilkunde erfährt, begründet sich darin, daß ihre Anbieter sich dem jeweiligen Patienten und seinen Problemen meist sehr viel intensiver zuwenden als Schulmediziner dies tun. Es ist ein erhebliches Manko des schulmedizinischen Versorgungssystems, daß viel zu wenig Zeit aufgewandt wird, dem Patienten wirklich zuzuhören und persönlich auf ihn einzugehen. Ebendeshalb wenden sich rat- und hilfesuchende Menschen gerne an Heilpraktiker und Homöopathen, bei denen sie sich alleine schon des anamnestischen Zeitaufwandes wegen sehr viel ernster genommen fühlen als in der regulären Arztpraxis oder Klinik. Die Alternativheilverfahren selbst erscheinen attraktiv, da sie - auch wenn dies nicht zutrifft - als "natürlich wirksam" und damit "nebenwirkungsfrei" angepriesen werden.

Die ausdrücklich auf magisch-okkulte Wirkkräfte abstellenden Verfahren versprechen eine schnelle Problemlösung ohne große Eigenbeteiligung, was natürlich hochattraktiv ist. Das Ausschalten jeder Vernunft ist dabei der notwendige Preis. Im übrigen beruht die tatsächliche Zufriedenheit vieler Kunden, etwa bei Homöopathie, wesentlich darauf, daß eine große Zahl an Gesundheitsstörungen ganz ohne jede Behandlung von selbst wieder verschwindet. Patienten mit solchen Problemen suchen häufig "alternative" Heiler auf, die dann, ebenso wie sie selbst, natürliche oder spontane Heilungsverläufe bzw. zyklische Besserungen als Ergebnis der jeweiligen "Behandlung" interpretieren. Auch Realitätsverzerrungen spielen eine Rolle: selbst wenn keine objektive Verbesserung nachweisbar ist, können Anhänger alternativer Heilverfahren überzeugt sein davon, daß ihnen geholfen wurde, allein weil sie sich besser fühlen, auch wenn sich tatsächlich nichts getan hat.. Es kann dieses "Gefühl" der Besserung in sich durchaus ein bedeutender Genesungsfaktor sein, der allerdings nichts mit dem eingesetzten Verfahren zu tun hat. Keine Besserung zu erhalten, nachdem man Zeit, Geld und guten Glauben in eine alternative Behandlung investiert hat, führt oft auch dazu, solchen Erfolg herbeizukonstruieren, alleine um das Eingeständnis zu vermeiden - vor sich selbst und anderen -, dass man einem Quacksalberverfahren aufgesessen ist. Vielfach werden die untauglichsten Verfahren mit nachgerade fanatischem Glaubenseifer verteidigt, auch mit großer Aggressivität.

Gibt es eindeutig fassbare Schäden oder Nachteile, die durch esoterische Behandlung entstehen können?

Goldner: Ja, vor allem die vielkolportierte Behauptung, Alternativheilverfahren seien nebenwirkungsfrei, kann nur für die Verfahren gelten, die, wie etwa Bachblüten- oder Edelsteintherapie überhaupt keine Wirkung haben. Einige der Alternativheilpraktiken können durchaus auch Schaden anrichten. Beispielsweise kann es bei niedrigverdünnten Homöopathika, in denen noch Wirkstoffanteile enthalten sind, durchaus zu Problemen kommen. Auch die Akupunktur birgt ungeahnte Risiken, und auch andere Verfahren wie etwa die vermeintlich harmlose Aromatherapie sind nicht risikofrei: bestimmte Öle können zu allergischen Reaktionen führen, bei exzessivem Gebrauch gar zu schleichender Leber- und Nierenschädigung. Im übrigen besteht das Hauptrisiko der alternativen Heilverfahren darin, dass der rechte Zeitpunkt zum Einsatz einer verfüglichen und sinnvollen Therapie womöglich verzögert oder verhindert wird - weil der Heilpraktiker nicht über ausreichende diagnostische Fähigkeiten verfügt bzw. weil sein eingesetztes Verfahren nichts taugt -, wodurch das jeweilige Problem sich massiv verschärfen kann.

Eine Ausbildung zum Heilpraktiker gibt es eigentlich nicht. Esoterische Heilpraktiker erwerben ihre Berufserlaubnis als Heilberuf wie alle Heilpraktiker durch eine Überprüfung ihres Leumunds und eines medizinischen oder psychologischen Grundwissens durch das Gesundheitsamt. Es gibt aber viele Schulen und Fernstudien, die Kurse anbieten, in denen das Wissen erworben wird, das zur Überprüfung beim Gesundheitsamt verlangt ist. Der Stoff wird durch Abend- oder Wochenendausbildung oder per Hörbuch auf DVD übermittelt, so z.B. die Paracelsus-Schulen. Diese Schulen machen gerade über diesen Berufszweig hohe Profite und machen daher auch auf hohe Einkommensmöglichkeiten aufmerksam. Auch Ausstattungsfirmen wie z.B. "Bioresonanz 3000" mischen da mit. Welche Befähigung ist zum Betrieb solcher Schulen oder Fernstudieneinrichtungen nötig? Wer hat die Zusammenstellung des erforderlichen Wissens festgelegt? Wer prüft die Adäquanz ihres Leerstoffs zum erforderlichen Wissen?

Goldner: Angehende Heilpraktiker müssen bei ihrer Überprüfung durch die Gesundheitsbehörde keinerlei heilkundliche Ausbildung nachweisen. Die Überprüfung sieht laut Heilpraktikergesetz von 1939 - ein altes Nazi-Gesetz, das In leicht modifizierter Form immer noch Gültigkeit hat - lediglich die Festellung vor, ob die antragstellende Person eine "Gefahr für die Volksgesundheit" bedeuten könne, ob also der angehende Heilpraktiker weiß, was er als solcher nicht darf: Ausübung von Gynäkologie und Zahnheilkunde, Behandlung von Infektionskrankheiten u.a. Eine inhaltliche Überprüfung findet, wenngleich der Fragenkatalog sich aufgrund verschiedener Durchführungsverordnungen in den zurückliegenden Jahren etwas verschärft hat, nur in sehr oberflächlicher Weise statt. Es wird eine Liste an Fragen zu Berufs- und Gesetzeskunde sowie zu medizinischen "Grundkenntnissen" abgehakt - überwiegend im multiple-choice-Verfahren. Eine praktische Prüfung gibt es nicht. Voraussetzungen zur Teilnahme gibt es auch keine: es reicht, über 25 Jahre alt und Hauptschulabsolvent zu sein. Nochmal: Heilkundliche Ausbildung wird nicht vorausgesetzt. Die "Überprüfung" als Verwaltungsakt kann im Falle des Nichtbestehens endlos wiederholt werden, so daß irgendwann selbst der Ahnungsloseste durchkommt. Im Bestehensfalle ist der Heilpraktiker berechtigt, sich mit nahezu jeder Methodik in nahezu jedem medizinischen Bereich zu schaffen zu machen: ein Skandal, den sich nur das bundesdeutsche Gesundheitswesen leistet, es gibt so was in keinem anderen Land der EU, in Österreich ist die Ausübung der Heilkunde ohne ärztliche Approbation sogar unter Strafe gestellt.

Die Heilpraktikerschulen selbst - es gibt hunderte davon - sind reine Privatunternehmen, die völlig willkürlich und nach Gutdünken der jeweiligen Betreiber strukturiert sind; die Rahmenbedingungen unterliegen ebensowenig einer öffentlichen Kontrolle wie die Qualifikation der Dozenten oder die jeweiligen Lehrinhalte. Sie unterstehen nicht den Kultusbehörden. Konsequenterweise kann man sich an vielen dieser Schulen nicht nur zum Heilpraktiker sondern gleichzeitig auch zum "Astrologen", zum "Engelmedium" oder zum "Reinkarnationstherapeuten" ausbilden lassen.

Aber, wie gesagt, es ist noch nicht einmal das Durchlaufen der windigsten Heilpraktikerschule vonnöten, noch nicht einmal das Absolvieren eines Fernlehrganges mit ein paar photokopierten Blättern, um zur amtsärztlichen Überprüfung zugelassen zu werden, die zu bestehen nicht viel mehr erforderlich ist als durchschnittliches Kreuzworträtselwissen. Heilpraktiker dürfen anschließend, mit den erwähnten Einschränkungen, praktisch das gleiche machen wie ein Arzt, sie dürfen ohne die geringste ernstzunehmende Ausbildung und mit untauglichsten Verfahren an der Gesundheit anderer Menschen herumdilettieren.

Wie Sie schreiben, gibt es kaum einen Beruf, der so einfach und unkontrolliert auszuüben ist, obwohl er sich mit schweren seelischen und körperlichen Krankheiten oder Konflikten befasst. Jeder normale Lehrberuf wie z.B. Automechaniker verlangt einen weit größeren Aufwand, um ihn ausüben zu dürfen. So geraten schon hierdurch viele Menschen in diese Sparte, welche die Methoden der Heilbehandlung rein objektivistisch übernehmen, ohne dass eine tiefergehende Auseinandersetzung damit vorausgesetzt wird. Gibt es dann wenigstens während ihrer Berufstätigkeit irgendeine Kontrolle hierzu? Gibt es für die Patienten eine Möglichkeit, sich bei Schädigungen oder Verfahrensfehler an Institutionen oder Verbände zu wenden, wo sie dies anzeigen können?

Goldner: Vermutlich fiele es keinem Menschen ein, sich in die Hände eines alternativen Zahnheilkundlers zu begeben, der seine Fachkompetenz auf ähnlichem Wege wie ein Heilpraktiker erworben hätte: über Fernkurse, Wochenendseminare, Heilpraktikerkurse oder einfach per Selbstakklamation. Man ließe vermutlich nicht einmal sein Auto reparieren von einem Mechaniker, der ähnlich wenig Ahnung hat von Autos wie die meisten Praktiker auf dem Alternativheilermarkt. Niemand würde sich die Toilettenspülung reparieren lassen von jemandem, der gerade einmal einen Fernkurs per Post absolviert hat. Ganz abgesehen davon, dass das Reparieren von Autos oder Toilettenspülungen nur dem erlaubt ist, der eine abgeschlossene dreijährige Lehre nachweisen kann. Heilpraktiker haben nichts dergleichen, die amtsärztliche Zulassung ist per se kein Hinweis auf irgendeine fachliche Befähigung.

Für Heilpraktiker gibt es auch keine Kammer mit obligater Zugehörigkeit, Fehlverhalten - diagnostische Fehler, klinische Fehler, ethische Fehler - können grundsätzlich nicht kammergeahndet werden. Patientenschutz gibt es insofern nicht. Unabhängige Beratungs- oder Hilfseinrichtungen, an die sich Hereingelegte, Übervorteilte oder sonstig Geschädigte wenden können, existieren nur in Form privater Initiativen. Heilpraktiker praktizieren in einem rechtlichen Grauraum, in dem sie selbst bei gravierendster Fehlbehandlung juristisch kaum zu greifen sind.

Als Audio: Interview mit Colin Goldner

Der ganze Text des Interviews als Quellendokument

Schulmedizin und Alternativmedizin

Tatsächlich sind auch die klassischen Methoden und vor allem Wissensinhalte der Medizin und der Psychologie verbesserungs- bzw. änderungsbedürftig und genügen nicht immer den Anforderungen der Probleme unserer Tage und dem Emanzipationsinteresse der Menschen. Von einer ganzheitlichen Medizin in dem Sinn, dass sie sich in die Gesamtheit der Gesundheitsprobleme unserer Kultur und des menschlichen Lebens darin überhaupt einlässt, sind wir weit entfernt. Kulturkritik ist ihre Sache nicht, auch nicht Gesellschaftskritik. Vielfach sind es bloße Prothesen, die sie zur Verfügung stellen kann, um den Lebensalltag zu bewältigen, die Existenz zu meistern und als Arbeitskraft zu funktionieren. Der Zweck der Medizin ist vor allem rein funktionell und lässt die Hinterfragung der Zusammenhänge, in denen sie steht und mit denen sie zu tun hat, weitgehend außer acht. Das hatte dazu geführt, eine andere Medizin zu fordern, die sich nicht von den herrschenden Bedingungen unter Druck setzen lässt, eine alternative Medizin, die kritisch zum Kapitalismus steht und sich unmittelbarer für die Menschen einsetzt.

Ich sprach hierüber mit Dr. med. Peter Pommer, einem Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie (Lungen- und Bronchialheilkunde), Chefarzt der Abteilung für Pneumologie der Klinik am Kofel im Gesundheitszentrum Oberammergau (das ganze Interview als Text im Archiv Erläuterungen):

Ist es nicht erst mal ganz „normal“, dass jemand zunächst die leichten Methoden wählt, wenn  er oder sie gesundheitliche Probleme hat? Was ist daran „schlimm“? Was halten Sie von der Hilfestellung, welche esoterische Heilpraktiker leisten? Welche Folgen hat deren Diagnostik für den Patienten? Was helfen die Globuli und Wässerchen von dort?

Dr. Pommer: Normal wäre es aus meiner Sicht, wenn man kleinere Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen einfach als einen Teil des Lebens ansehen würde und mit einer ähnlichen Gelassenheit hinnähme wie das Wetter. Wenn es regnet oder stürmt, kann ich es mir zu Hause gemütlich machen, wenn ich erkältet bin oder ein Gelenk schmerzt ebenso, d. h. auch das Gute darin sehen, die Intention der Ruhe, Pause, Schonung. Genau das würde die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren, die man durch im weitesten Sinne natürlich Mittel noch unterstützen kann und auch sollte. Dazu gehören gesunde Ernährung, Bewegung an der frischen Luft ohne sportlichen Anspruch, Sauna und Wasseranwendungen auch im Sinne von Kneipp, Entspannungsverfahren und Kräutertees - das Spektrum natürlicher Medizin ist groß, aber klar und kommt ohne Hokuspokus, Mystik, Kügelchen und Verdünnungen aus. Mal abgesehen von der klassischen Naturheilkunde: Was Homöopathie und andere alternative und suggestive Verfahren da zu suchen haben oder bewirken sollen, erschliesst sich einem nüchternen Verstand nicht. Freilich ist es bequemer und damit billig (aber nicht im finanziellen Sinne!) statt einer mühsamen Arbeit an sich selbst, an den eigenen schlechten Gewohnheiten mit Bewegung und Ernährung zu arbeiten, sich passiv zu verhalten und auf magische Hilfe, Wunder von aussen zu hoffen. Das liegt in der Trägheit der Menschen begründet und wird leider durch die Alternativheiler oft unterstützt, obwohl die, genau wie auch Ärzte, auf dem Gebiet der Lebensänderung mit der entsprechenden Einsicht und Ausbildung durchaus positives bewirken könnten, leider aber meist nicht tun, weil sich Wunder besser verkaufen als Arbeit.

Schlimm wird das aber dort, wo sich in dem somatischen Krankheitsbild, das den Patienten zum Alternativheiler bringt, ein psychischer Konflikt verbirgt, also eine psychosomatische Erkrankung vorliegt. In diesem Fall finden die Heiler fast immer ein angebliches organisches Korrelat, das mit entsprechenden Kosten behandelt wird. Das tragische daran ist aber weniger der finanzielle Verlust, sondern der Irrweg, auf den der Patienten geführt wird, der eine Lösung des tatsächlichen Konflikts  verhindert oder zumindest oft um Jahre, verlorene Jahre, verzögert.

Alternativ bedeutet ja so etwas wie: anders begründet, aus einer „anderen Geburt“. Gibt es zwei voneinander unabhägige Medizinrichtungen, die jede einfach nur ihren Grundlagen folgend für sich arbeiten kann, sozusagen als Ergänzung, wenn die eine nicht hilft, dann die andere? Wenn jede irgendwie heilt, hat dann jede auch ihr einfaches Recht oder gibt es dabei Konflikte?

Dr. Pommer: Zwei unterschiedliche Medizinrichtungen gibt es nur als Somamedizin und Psychomedizin - nur beide zusammen können den Menschen mit seinen Krankheiten und Leiden ganz erfassen und verstehen. Weitere Verfahren sind weder nötig und erschliessen sich auch keiner Logik. Sie entstehen aber aus dem offenbar existenten Bedürfnis der Menschen nach dem Mystischen, Transzendenten, das heute anscheinend durch Religionen und Kirchen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden kann.

Dagegen sind viele magische Heilverfahren und auch die Homöopathie sehr statisch und durchlaufen kaum eine Entwicklung. Genau diese Tatsache des medizinischen Wissens in ständiger Weiterentwicklung wird oft gegen die wissenschaftliche Medizin ins Feld geführt.

Letztlich vermitteln fast alle alternativmedizischen Richtungen dem Patienten Kritik an der wissenschaftlichen Medizin und gefährden so dessen Therapietreue zu wissenschaftlich gesicherten Verfahren. Und genau das kann im Sinne der Patientensicherheit auch politisch und juristisch nicht hingenommen werden. Akzeptabel wäre nur eine Alternativmedizin, die sich als Ergänzung, nicht in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Medizin sieht und deren offensichtliche Schwächen wie mangelhafte Zeit, Empathie und persönliche Hinwendung zum Patienten ausgleicht.

Bemerken Sie eine Veränderung Ihrer ärztlichen Therapiemöglichkeiten? Inwieweit  bedrängen esoterische Heilmethoden die Prognosen medizinischer und/oder psychotherapeutischer Behandlung? Sind Ihnen eindeutige Schädigungen der Gesundheit der Betreuten bekannt? Wenn ja, welche? Direkte Einschränkungen? Symptomverschiebung? Psychotisierung? ...

Dr. Pommer: Die wissenschaftliche Medizin wird natürlich niemals von esoterischen oder unlogischen Verfahren verdrängt werden, nicht zuletzt weil sie bei rein organischen und operationspflichtigen Krankheitsbildern wie in der Notfallmedizin schlicht konkurrenzlos ist. Angebliche Narkosen ausschliesslich unter Akupunktur, wie immer wieder behauptet wird, halten auch chinesische Ärzte für Humbug wenn nicht sogar für Betrug. Eine Schädigung und Gefährdung von Patienten dadurch, dass Alternativheiler aller Couleur schwere Krankheiten, für die eine schnelle und energische Behandlung erforderlich ist, nicht oder zu spät erkennen, kommt leider recht häufig vor. Persönlich habe ich z. B. einer jungen Frau mit einer Meningokokkensepsis (Hirnhautentzündung mit Blutvergiftung) beim Sterben hilflos zusehen müssen, nachdem sie sich 2 Tage lang mit hohem Fieber und schwersten Kopfschmerzen vom Heilpraktiker behandeln liess bis sie ins Koma fiel. Dann sollte die wissenschaftliche Medizin die Kohlen aus dem Feuer holen. Sie wäre bei sofortiger, energischer antibiotischer Therapie - wie es die "Schulmedizin" bei so hohem Fieber fast schablonenhaft tut, fast mit Sicherheit zu retten gewesen. Durch die offenbar völlig fehlenden medizinischen Kenntnisse des Heilpraktikers war leider her der "point of no return" schon überschritten gewesen, das Blut gerinnt diffus, es kommt zum Multiorganversagen - da kann keiner mehr helfen.

Noch häufiger wird Patienten mit psychosomatischen Krankheitsbildern geschadet, weil die Alternativheiler im Gegensatz zum Mediziner, der (allerdings zu kurz greifend) sagt, man könne organisch nichts finden, es müsse wohl was Psychisches sein, den Patienten vom Makel des "Psychischen" befreit und ihn mit einer somatischen Diagnose erleichtert und leider auch täuscht. Die Bearbeitung und Lösung des in Wirklichkeit zu Grunde liegenden psychischen Konflikts wird dadurch um Jahre verzögert oder für immer verhindert. Durch diese "Erleichterung" des Patienten stellen sich natürlich vorübergehende, suggestiv bedingte Erfolge ein, die aber nicht von Dauer sind und oftmals zu der durchaus pekuniär erwünschten passiv-infantilen Abhängigkeit bei völlig fehlender Entwicklung auf Seiten des Patienten führt.

Besonders kritisch ist die Einmischung von Alternativheilern bei Krebskrankheiten zu sehen, wo sie meiner langjährigen Erfahrung nach rein gar nichts bewirken, nicht einmal die Scheinerfolge wie im Bereich der psychosomatischen Krankheiten. Angebliche Heilungen durch solche Verfahren sind ausschliesslich durch – meist durch diese Heiler selbst gestellte – falsche Diagnosen zu erklären. Manchmal wird auch eine nicht mehr weiter abgeklärte falsche schulmedizinische Verdachtsdiagnose „geheilt“. Ganz übel wird es, wenn dabei der Abbruch der wissenschaftlich fundierten Therapie betrieben wird. Persönlich ist mir ein Fall bekannt, wo ein Patient von einem Initiator der „Neuen Germanischen Medizin“ dazugebracht wurde, die Chemotherapie bei einer heilbaren Leukämieform abzubrechen und daraufhin starb – das kann ich nur  als vorsätzlichen Mord bezeichnen! Meist hüten sich Alternativheiler jedoch vor solch schlimmen Eingriffen und beschränken sich darauf, teure „supportive“ Therapien anzubieten und sich dann z. B. damit zu brüsten, dass sich durch ihre Hilfe das Blutbild nach einer Chemotherapie wieder normalisiert habe.

Audio: Interview mit Dr. med. Peter Pommer
(Das ganze Interview als Text im Archiv Erläuterungen)

Esoterik ist die Brücke des Wahnsinns zwischen Links und Rechts

Mit Energie als Grundlage eines Heilungsprozesses, wie das oft beschrieben wird, ist das so eine Sache. Man sollte meinen, dass spätestens seit Einsteins Relativitätsformel die Immanenz, also die Untrennbarkeit von Materie und Energie hinreichend bekannt geworden ist: Das eine lässt sich nicht ohne das andere begreifen. Einstein selbst hatte das in seiner Kritik an der Reich’schen Orgontheorie expliziert, mit welcher ein einzige Substanz, das Orgon, als Träger der gesamten Lebensenergie gekennzeichnet wurde und allen Tätigkeiten des Lebens vorangestellt wurde. Die esoterischen Grundlagen bestehen daraus, dass Energie der Materie vorausgehen soll, dass kosmische Energie alles „durchströme“, was materiell existiert, besonders auch die Körper von Menschen, Tieren und Pflanzen. Damit gilt Materie nicht selbst als Energieform, sondern als Medium höherer Kräfte und wird sozusagen disfunktional, wenn deren Fluß gestört oder blockiert wird. Was man natürlich überall beobachten kann, wenn Kraft unterdrückt wird, wenn Leben behindert wird, dass sich dann dessen Energie in anderen Formen darstellt, beispielsweise als Krankheit oder Fanatismus oder Hörigkeit usw., ist damit auf den Kopf gestellt: Energie sei selbst der Lebensurgrund und wir deren mehr oder weniger behinderte Träger, durch sie mehr oder wenig durchströmt oder erleuchtet, weil uns das materielle Leben selbst schon bedrängt, wir der Entwicklung unseres Lebens zu einem geistigen Leib nicht entsprechen können. Der Mensch wird damit nicht selbst als leibgeistiges Wesen begriffen, nicht als Wesen, das durch seinen Sinn und Verstand und Witz Geist äußert. Ihn soll Geist selbst als ein Wesen überkommen, das ihn mit einer höheren Energie ausfüllt, nachdem er befähigt worden ist, dies zu erfahren. Seine leibliche Geistigkeit wird mit dieser Vorstellung zu einer Geistesmacht sphärischer Welten verkehrt, die er durch Phasen der Erleuchtung erst erwerben muss, so er kann, - so er also über die Mittel für ein höheres Leben verfügen kann. Sie wird zu einem Herrschaftswissen der anderen Art.

Diese Geistesform wurde inzwischen auch aus einem Erkenntnisproblem der Quantenphysik begründet: Weil Elektronen keine eindeutige Materialität aufweisen, je nach Art der Messung entweder Energiewolken oder auch Teilchen sein können, wird daraus auf ein neues Phänomen geschlossen, das z.B. Fritz Popp mit Bio-Photonen beschreibt, die eine eigene Informationsübermittlung beinhalte, welche die Ganzheit eines materiellen Systems betreffen. Aus dieser These spannt er einen großen Bogen bis hin zu den Irritationen des Zellwachstums, wie sie in der Krebserkrankung aufkommt. Ähnliches hatte dereinst auch schon Wilhelm Reich bekundet und beides wurde auch in den Naturwissenschaften diskutiert. Es wurde ein Umdenken zu einem ganzheitlichen Welterfassen gefordert, welches sich - ähnlich wie die Antimoderne der 20ger Jahre des letzten Jahrhunderts - gegen das rein funktionalistische Weltbild der Naturwissenschaften richtete. Es entstand eine "New-Age-Bewegung", in der vor allem auch Denkschulen aus Indien, China und Tibet integriert wurden. Im Körper wurden "Lebensströme" als ganzheitliche und überhistorische Lebensgrundlagen zuerkannt, die sich auch in einer Neuinterpretation des Leib-Seele-Problems niederschlugen.

Der Avantgardist einer alternativen Naturwissenschaft und Preisträger des Alternativen Nobelpreises Hans-Peter Dürr verlängerte das in die Behauptung, dass es gar keine Materie gebe. Vor aller Materialität gebe es das rein Ununterschiedene. Es klingt nach großer Philosophie und es klingt zugleich biblisch: "Im Anfang ist alles Eins", meint Professor Dürr. Gemeint ist aber nicht die Hegelsche Idee der Wahrheit, welche die Einheit des Ganzen sei, sondern etwas, was gänzlich unphilsophisch und ohne Begriff, also einfach und jedem Menschen verständlich sein sollte. Denn diese Einheit sei nicht mit Verstand zu erfassen, und nicht durch Anschauung zu begreifen. Sie sei nur intuitiv zu erkennen, durch eine Ahnung vom großen Ganzen, in welchem wir befangen seien, also davon, dass alles mit allem zusammenhängen würde und durch die Wahrnehmung selbst schon zertrennt wäre. Das Allgemeine aber, das in allem einig ist, trete durch und selbst hervor, und wäre die stärkere Individualität, weil sie dürch ein größeres Subjekt bestimmt ist, als unsere bescheidene Subjektivität es sein könnte. Zwar stellt das natürlich jedes Selbstvertrauen in einen umfassenden Rückhalt, durch des es gesichert ist, aber es macht jede Beziehung doppelbödig, denn indem solche Individuen subjektiv kommunizieren, wird ihre Subjektivität zu einer bloßen Einfältigkeit herabgesetzt, während sie ihre vorsprachliche Zusammengehörigkeit als "Kommunion" des Ganzen, als reine Spiritualität (so meint es Prof. Dürr) verwirklichen. Nicht das Einzelne bestimmt und verwirklicht allgemeine Zusammenhänge, sondern das Allgemeine überkommt alles Einzelne in jedem Augenblick. Es wird zum Dasein einer vollkommenen Abstraktion, die es allerdings sehr wohl verspüren kann, wenn es auf sein Inneres sich konzentriert und von Äußerem sich nicht beeindrucken lässt.

Daraus wird von ihm dann ein "total neues Weltbild", in welchem Spiritualität sich aus der Erinnerung an den Zusammenhang kommunizieren würde, Sprache hierfür gar nicht unbedingt nötig wäre. Materielle Lebensgrundlagen werden daran relativiert und aus der Erkenntnis und ihrer Bewahrheitung verbannt, also auch der Stoffwechsel, der ansonsten als eine der Grundlagen des Lebens aufgefasst wird, als im Grunde schon Totes, einfach nur Nötiges angesehen. Ihm vorausgesetzt sei die Idealität einer Einheit von allem, Einheit des gemeinen Geistes. Kommunikation sei daher wesentlich Kommunion. Das Gemeine ist der neue Gott der Quantenphysik. Er kündet von hoher wissenschaftlicher Weisheit, die das Einfache sucht, wo das Leben doch viel zu komplex ist, weil "wir" es uns so kompliziert machen. Es ist Daher vor allem der Gott der Komplikation, der Gott einer esoterischen Elite, die sich nun in besser wissender Naturforschung auch ganz einfach verstehen kann. Doch eigentlich wird nichts wirklich einfach, denn dem platten Verstand wird der Maßstab einer Orientierung durch einen "reziprogen Raum" überordnet, in welcher die Einheit, "die Verbindung von allem am Anfang steht". Vielleicht ist es die Kritische Theorie Platons: Die Welt als komlexer Schatten einfacher Wahrheiten? Jedenfalls stünden diese am Anfang der Kulturen überhaupt, und die sogenannte "primitive Kultur" stünde daher dem näher als die unsere, die alles nur analysieren und zerschneiden würde (siehe Daraus wird von ihm dann ein "total neues Weltbild" gestrickt, in welchem die Erinnerung selbst schon als Spiritualität kommuniziert. Materielle Lebensgrundlagen werden aus der Erkenntnis und ihrer Bewahrheitung verbannt, also auch der Stoffwechsel als Grundlage des Lebens (http://www.youtube.com/watch?v=rT6ekqvt42k&feature=related).

Die esoterischen Methoden gründen auf alten Verfahren bzw. „Erkenntnissen“, die aus altem Wissen, zum Teil aus der chinesischen Frühzeit stammen oder von der katholischen Heiligen Hildegard von Bingen im 12.Jahrhundert gelehrt wurden, oder von Paracelsus im 16. Jahrhundert oder im frühen 20. Jahrhundert von C.G.Jung und Wilhelm Reich. Gerade dessen Orgontheorie und Vegetotherapie wurde in der New-Age-Bewegung der 70ger und 80ger Jahre dem Herrschaftswissen der Psychologie und Medizin entgegengehalten und in viele Anwendungen alternativer Art weiterentwickelt, mit Zutaten aus Indien und dem moderneren Buddhismus. Was bei Reich noch ein Stoff, ein schimmerndes Teilchen voll sexueller Energie sein sollte, war damit zu einer reinen Spiritualität geworden.

Wesentlich für den Massenboom auf dem heutigen Gesundheitsmarkt war die Vermengung von cutariver Heilpraxis mit dem Versprechen einer allgemeinen Bereinigung der Lebensprobleme, so eine Art Rundum-Angebot gegen Störungen der Lebensgefühle und damit die Botschaft einer Heilung, die selbst auch noch Heil, eine besondere Beglückung verspricht. Da besteht dann keinerlei Scheu mehr vor ausufernder Marktschreierei, denn solche Heilpraxis als Heilspraxis ist inzwischen eine Art Selfunderstatement von der Machbarkeit eines ungetrübten Lebens. Das passt insgesamt gut in den allgemeinen Trend der Konsummentalität. Das Leben wird durch raffinierte Angebote nicht nur "bewältigt", sondern zugleich veredelt. Man selbst wird veredelt durch edle Dienstleistungen an Leib und Seele.

Esoterik liefert die Flügel dieser heillosen Heilpraxis, die Feinstoffe und Tröpflein, die Übungen, die Tests und die Erklärungen. Sie verbindet alles mit allem, indem sie alle Zusammenhänge mit Nichtigkeiten auffüllt, die irgendwie als Energieform erkennbar gemacht wird, indem Gefühle so bewahrheitet werden, wie sie auch produziert sind. Man erzeugt ein Geistgefühl aus einem Körpergefühl durch Anwesenheit geheimnisvoller Substanzen und Verkündungen und Suggestionen und sagt voraus, was längst schon da ist. Und schon gilt man als begabt durch Seherische oder erleuchtende Impulse. Für den Rezipienten ist es ein schlechter Kreislauf: Das Bedürfnis nach solcher Vereinfachung wird immer größer, je leerer die Reflexionen und Reflexionsmöglichkeiten hierzu werden. Schließlich wird es zu einem Gefühl, das zu einer neuen Selbstgewissheit wird, zu einem "wissenden Gefühl", einem "höheren Wissen" des Geistwesens, dem auch hoch intelligente Menschen erliegen, die in der Seligkeit ihrer damit einhergehenden Selbstveredelung neuen Lebensmut schöpfen. Die Selbstgewissheit wendet sich nach innen, wird zu einer Sphäre der Ahnungen, die keiner Vergewisserung mehr bedürfen. Die Menschen können sich dadurch dann subjektiv geborgen fühlen, wenn sie ihre ganze Subjektvität aufgeben, dem Kosmos überlassen und sie für sich im All der höheren Tugenden aufheben.

Es ist Wahnsinn mit Methode: Wer seinen Boden verloren hat, kann sich auf diese Weise in höheren Sphären wiederfinden und empfinden. Eine baut auf der anderen, wird zu einem Reich der Strömungen, in denen sich Ahnungen vermengen. Endlich verspürt man auf diese Weise etwas, das man nicht zu denken gewagt hatte: Den reinen Geist der eigenen Natur. Im Verbund mit Heilungsprozeduren wird das manifest, weil deren fragwürdiger Bewahrheitungsanspruch: „Wer heilt, hat recht“ unter diesen Bedingungen nicht als Machtanspruch des Heilers erkannt werden kann, und das Leiden sich in die Potenz eines absurden Selbstwerts verkehrt: Die Welt kann mich mal. Was wahr ist, das ist nicht von dieser Welt.

An deren Stelle tritt das kosmisch dimensionierte „Innere“, ein inneres Wesen des kosmisch gewordenen Gefühls, das in sich leuchtet wie eine absolute Erkenntnis, weil sie zu einer inneren Gewissheit einer allgemeinen Energetisierung geworden ist, einer Kraft der Leere, die Freude aufkommen lässt, die Kraft eines kosmischen Willens, der aus einer höheren Intelligenz entspringt. In der Entleerung der äußeren Wahrnehmung und entsprechender Körperübung wird diese "Kraft durch Freude" (Nazispruch) zum Schein eines abstrakten Allgemeinwesens, das im Einzelnen aufleuchtet wie dereinst die verspießte Wesenskuh des Martin Heideggers, wenn sie sich nur weidlich gelichtet und die Seinsvergessenheit der Menschen hinweg gefressen hat, zum reinen Sein eines innneren Wesens aller Geschichte geworden ist. Die kann damit als Heilsgeschichte erscheinen, die lediglich noch ihrer Entdeckung harrt und begabte Menschen mit hoher Willenskraft zu ihrer Erlösung nötig hat.

Die Ideologie einer Wendezeit wird damit zur Erlösungshoffnung, zu einer Heilsbotschaft. Und deshalb war dieses Pathos einer geistigen Energie bei den Nazis höchst beliebt und hat den Führer zum Magier gemacht. Der innere Glanz wurde zu einer repräsentativen Masse, wo sich Menschen um ihn versammelten und seine Ausstrahlung in sich verspürten. Heute kommt es aus Fernost und versammelt eine innere Freude durch Massensuggestion. Sie glänzt durch eine Form der Selbstbefreiung, die nur im Körper selbst sich vollzieht. Sie raunt durch die Muskelverspannungen der Menschen in den unzähligen Kursangebote, Körpertherapien und in den Sprechzimmern diffuser Heilangebote, mal als neues Selbstgefühl im Innersten, mal als ozeanisches Gefühl wunderbarer Selbstvermehrung im Kosmos.

Die neue Erfahrung heißt Lebensenergie. Sie kommt von rechts und auch von links, aus dem Orgon, das zum Chi geworden ist oder zu einem schlichten Rhytmus der Natur, die ihr einfaches Recht hat und dieses auch verlangt. Sie ist die Befreiung einer auf Energieformen reduzierte Ordnung von Leib und Seele, deren wesentliche Einheit. Der Charme liegt in der Einfachheit und also in der Einfältigkeit solcher Erkenntnis, die kein Bewusstsein und kein Wissen nötig hat, weil sie selbst eine Erleuchtung enthält und sich auch nur durch diese vermitteln lässt.

Diese ergeht aus der Rückvermittlung "kosmischer Energie" in den Menschen, der durch das ausgleichende Prinzip einer manipulierten Selbstwahrnehmung seinen Gegenpol erfahren hat, die innere Selbstbefreiung. Energie, die angeblich in seinen Blockierungen völlig unsinnig verbraucht worden sein soll, wird nun in deren Auflösung freigesetzt für die Bahnungen einer Heilung, die kein Unheil mehr erkennen muss, wird allmächtig und sucht schließlich auch die Persönlichkeit ihrer Allmacht, ihren Guru oder Heiler, der mental immer gegenwärtig ist, ohne weiterhin anwesend zu sein. Ihr Wirkfeld wird einfach definiert und durch Definition materiell: Es sind die Felder und Stoffe des hohen Wissens der noch höheren Ordnung enes Geistwesens, in die ein Problem hineingestellt wird. Hemmungen werden aufgelöst, indem sie denunziert werden. Sie haben keinen anderen Sinn als den einer abstrakten Störung der höheren Ordnung und des höheren Friedens, sind bloßes Hindernis von Freude und Glück, also einfach nur lebensfeindlich. Das Heil ist somit geklärt – und das Unheil auch. Es ist das Böse schlechthin, die Störung Ausgleich suchender Lebensströme, die in der Lebensgeschichte von Menschen oder auch der Genealogie ganzer Kulturen einmal entstanden sein sollen, und jetzt endlich aufgelöst werden müssen.

Von daher beinhaltet Esoterik die Vorstellung von einer Befreiung ursprünglicher Kräfte in jedem einzelnen Menschen, die Auflösung seiner Blockaden der Wesentlichkeiten seines Lebens durch die Überwindung einer ihm nicht wohlgesonnenen Gesellschaft und Kultur. Sein Geistwesen steht gegen jede Bedrängung, die damit rein äußerlich und ohne jede Vermittlung zu seinem individuellen Dasein erscheint. Esoterik weist damit jede gesellschaftliche Form ab und ist von daher zum Beispiel auch antikapitalistisch. Sie versteht das individualisierte Leben als Leben schlechthin im Potenzial seiner Selbsterfahrung, und kehrt gegen die Übel der Welt das absolute Individuum hervor, das sich als bloß einzelner Mensch im Grunde nur mit Mensch und Natur schlechthin einig wissen muss, um sich in die allgemeine Symbiose seiner natürlichen Menschlichkeit in das Jenseitige der Wirklichkeit, das Übernatürliche einzufühlen, um für sich frei, erleuchtet zu sein.

Solche Vorstellung einer totalen Emanzipation des Individuums von jeder gesellschaftlichen Form ist nicht neu, auch wenn sie aus asiatischen Lebensvorstellungen wieder belebt wurde. Sie kommt auch schon lange als Ideologie des einzigartigen Individuums Mensch, dem je einzig Einzelnen, in religiösen wie auch philosophischen abendländischen Gedankenkreisen vor. Es ist die Befreiungsideologie verweltlichter Individualität, die Theorie des Naturwesens Mensch als allgemeine Selbstverwirklichung in der unmittelbaren Einzelheit und Vereinzelung eines kosmisch vorgestellten Individuums, das sich über jede gesellschaftliche Form hinwegsetzen, inhumane Gesellschaftsformen einfach durch sich selbst überwinden kann, weil es durch sich schon die Gesellschaft eines kosmischen Subjekts darstellt. Ein so vorgestelltes Individuum versteht sich selbst in einer natürlichen Gesellschaft, deren Totalität es auch als Einzelwesen verkörpere, als dieses unmittelbar allgemein wesentlich sei. Es hat daher keinen Humanismus nötig, weil es sich selbst als allgemeine Humanität versteht, weil es durch sich schon mit allem Mensch- und Natursein sich versöhnt wissen will und daher auch nur um die Versöhnung mit allem und jedem bemüht ist.

Die Weltordnung des mit allem versöhnten Menschen

Es ist das alte Lied der Phänomenologie: die Abweisung humanistischer Denkansätze durch die Behauptung der Logik eines inneren Wesens, das sich in jeder Einzelheit unmittelbar über die Welt ausbreite würde und dort seine Strukturen bildet, eine Ordnung von einer tieferen Klarheit und Kraft, als es die Menschen selbst vermögen, die Kultur eines hohen Wesens, die man in jedem einzelnen Dasein erfühlen, eidetisch nachvollziehen kann, - nicht Gott oder Heiland -, sondern übermenschlich verflochtene Lebensstruktur, allgewaltige, kosmische Natur und Geschichte, in welcher die Menschenschicksale spirituell verbunden seien. So lässt sich jedes Prinzip übermenschlich begründen. Von Rechts war solche "Logik" durch die „Ordnung der Liebe“ von Bert Hellinger wieder belebt worden, durch welche Liebesschuldigkeiten als Störung gegen das kosmische Ganze der Menschenseele zur Verantwortung gezogen wurden. Von Links betrieb die Phänomänologie den Gedanken in einer „Ordnung der Dinge“ (z.B. auch von Foucault) , durch welche die gesellschaftlichen Verhältnisse auf ein gesellschaftliches Verhalten der professionellen Macht reduziert und ihre Kritik zu einer subjektiven Gesellschaftskritik verkehrt wurde, zu einer Kritik des Unmenschen, der Macht des Bösen schlechthin. Die institutionelle oder pastorale oder auch persönliche und sexuelle Preferenz wurde damit zum unmittelbaren Subjekt der gesellschaftlichen Geschichte, die lediglich durch ungute Formen oder Handlungen gestört werde. Gesellschaftliche Mängel erscheinen damit wesentlich verursacht durch Fehlverhalten der Menschen selbst, erscheinen nicht als Zwangläufigkeiten eines bestimmten Produktionsverhältnissses. Der Verlauf ihrer Geschichte selbst wird zu ihrer Begründung, ihre Aufdeckung (oder Archäologie) zu wesentlicher Erkenntnis.

Der Siegeszug der Phänomenologien änderte so ziemlich alles, was in der politischen Intelligenzia zuvor noch selbstredend war: War die politische Emanzipation der Menschen noch als Überwindung ihrer ihnen entfremdeten Beziehungen und Verhältnisse verstanden worden, versteht sie sich nun wie von selbst durch die Überwindung der Störung höherer Ordnungen. Sie sollte durch das Prinzip einer Fundamentalontologie (siehe Martin Heidegger) ersetzt werden, das freilich nur durch Befolgung erreicht werden kann. Philosophie war damit unmittelbar praktisch geworden, Reflexion zu einem Reflex hohen Wissens. In den Prinzipien des Ausgleichs versöhnt sich die Begierde nach Entlastung mit der Freiheit im Himmelslicht höchster Lebenstugenden, wovon alle Idealisten träumen, die nicht wissen wollen, von was sie sich auch wirklich befreien müssen. Phänomenologie der verinnerlichten Idealisierungen verliert das Objekt der Befreiung und wird zu einem Raster der Selbstwahrnehmung, das sich nach den Erfahrungen der Selbstbefreiung, die auf diese Weise gewonnen werden, ausrichtet.

Esoterik ist von daher die gewähnte Freiheit, die Freiheit durch geistige Selbstbeglückung, die aus den Niederungen sinnentleerter Konflikte, aus der Ödnis einer verschrobenen Existenz heraus leitet, ohne diese auch nur zu berühren. Und diese Existenz bleibt damit nicht nur, was sie ist. Sie wird denen vorgeworfen, die davon beherrscht leben müssen, denen solche Beglückung nichts erbringen kann. Der Zynismus gegen diese Wirklichkeit ist die Brücke des Wahnsinns von rechts bis links und macht die politische Reflexion zu einem Reflex kosmopolitischer Selbstbegründung sich darin veredelt dünkender Menschen. Alle Natur wird zu deren Träger, zu einem Wesen der reinen Art, wie dies letztlich als Grundlage eines jeglichen Rassismus ist. Der wird schlagartig zutage treten, wenn er eine frenetische Masse erreicht hat und durch den theokratischen Blick idolisierter Persönlichkeiten ins rechte Maß gebracht wird. Die müssen nur eines können: eine politische Wende verheißen, die durch Einfühlung in die Seele des vereinzelten, von allen Geistern verlassenen Menschen diesem versichern soll, dass durch ein geistiges Allgemeinwesen von höherer Natur einem jeden Menschen das Heil einer höheren Ordnung beschieden ist. Darin lässt sich das Gefühl einer von aller irdischen Mangelerfahrung losgelösten Freiheit vermitteln, die manche vielleicht auch schon in ihren esoterischen Übungen bereits kennen gelernt hatten.

Der moderne Weg des Faschismus führt über eine Psychokratie. Das haben auch schon die Schlussfolgerungen eines Bert Hellinger bewiesen, wo er aussprach, was das Ziel seiner Esoterik ist. Sein Credo war der Telos der Phänomenologie, ihr letztendliches Ziel: Versöhnung und Ausgleich mit allem, dem Kosmos mit dem Menschen, dem Individuum mit der Gesellschaft, dem Bürger mit dem Staat, den Tätern mit den Opfern: Die Ausschaltung jedweder Geschichte durch Gleichschaltung der Gegensätze, der Interessen und Bedürfnisse. Hellingers Versöhnungsprinzip ist das Handwerkszeug eines allgemeinen Menschenbildes, das sich ausbreiten soll wie eine notwendig gewordene Therapie, eine Therapie der ganzen Menschheit für eine Welt, in der sich die Hellingersche Vorstellung vom Menschsein verallgemeinern soll und die also nicht jammern soll, wenn sie Opfer bringen muss. Hellinger will ja ihr Arzt sein, ihr Übermensch, der allzu menschlich sich übermenschlich weiß und gibt, das Opfer versteht wie auch den Täter und beiden dazu verhilft, endlich Mensch in seinem Sinne zu werden. Das verlangt Größe, eine große Seele, eine Güte, die dem Bösen den Weg weisen kann, die ihm zeigt, dass seine Bosheit in Wahrheit selbst "eigentlich" nur Gutes will. Es ging und geht ihm um eine Weltpsyche jenseits von wirklicher Geschichte und also um eine Psychologie, die zugleich eine allgemeine Philosophie der Welt ist und als diese unmittelbar am Menschen angewandt werden soll. Sie soll die Welt versubjektivieren, zur Psyche machen, überhaupt nur psychische Welt als Welt schlechthin verfassen, die von denen Opfer verlangt, die nicht Täter sein können. Das verlangt einen bestimmten Schritt, eine Art Inszenierung für das ganz Große. Für das ganz große Gute muss es natürlich das ganz große Böse geben. Und das Böse wird darin überwunden, dass es sich im Guten versöhnt. Sein Gebet zu Adolf Hitler war in diesem Sinne nur konsequent, wenn er darin sagt:

"Wenn ich bekenne, dass du ein Mensch warst, wie ich es bin, dann schaue ich auf etwas, das über uns beide in gleicher Weise verfügt, auf etwas, das sowohl deine wie meine Ursache ist - und unser Ende. Wie dürfte ich mich von dieser Ursache ausschließen, indem ich dich ausschließe? Wie dürfte ich diese Ursache anklagen und mich so über sie erheben, indem ich dich anklage?" (Bert Hellinger 2004 in "Gottesgedanken" S. 247)

In der Versöhnung wird alles realisierbar, was einen über den Menschen stehenden Zweck hat, was ihre Entfremdung von sich und ihrer Gesellschaft virtuell auflöst. Es erfordert lediglich die Gleichstellung von Subjekt und Objekt der herrschenden Verhältnisse. So fordert Hellinger auch schließlich die Gleichstellung der Täter und der Opfer des Holocaust, denn jede Tat hat halt so ihre Opfer (darüber mehr in „Ein Heiland der herrschenden Ordnung“).

Der erhabene Spiritualismus des versöhnten Menschen muss sich im Übermenschlichen auch darstellen, einer Menschlichkeit, die sich letztlich aus der Natur eines überwirklichen, eines durch seine innere übernatürliche Kraft guten Menschen realisieren lässt. Daher ähnelt Hellingers Gebet an Hitler auch der "Hellsicht" eines dereinst linken Kommunarden der New-Age-Szene, Rainer Langhans, der im Nationalsozialismus lediglich eine behinderte Spiritualität erspürt haben will, einen Verlangen nach dem Übermenschen, das noch nicht richtig ausgereift war. Ihm fiel dazu in einem Interview in der ARD folgendes ein (Panorama vom 02. September 1999, Wiederholung am 10.2.2011 im NDR):

"Wir müssen die besseren Faschisten sein, denn der Faschist ist in meinen Augen jemand, der erstmal natürlich das Himmelreich auf Erden holen wollte, also der wirklich was Gutes wollte. Also unter dem Gesichtspunkt ist Hitler selbstverständlich für uns alle ein großer Lehrer, das wird keiner dann ablehnen können. Jetzt aber im speziellen Fall dieser Spiritualität würde ich sagen: Hitler ist ein verhinderter Spiritueller, und er hat das, was in die inneren Ebenen gehört, auf den äußeren Ebenen". (http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1999/erste7152.html)

Von seiner Ideologie her ist Faschismus Theosophie, wie sie der Esoterik zugrunde liegt: Der Glaube an das archaisch begründete Leben einer "heiligen Ordnung" (Helena Blavatzky, 1831–1891), eine theoretisch ausformulierte Ursprungssehnsucht, die sich spirituell durch eine Rasse des Fortschritts zu einem "Goldenen Zeitalter" überführen lassen würde (siehe auch als Quelle hierzu von Colin Goldner: Ursprünge der nazistischen Irrationalität).

"Die ideologischen Wegbereiter des Nationalsozialismus, Guido von List und Georg Lanz, wurden wesentlich durch theosophisches Gedankengut – vor allem dessen latenten Antisemitismus – inspiriert. Lanz gab 1905 in Wien ein ario-germanisches Esoterik-Blatt namens „Ostara“ heraus, zu dessen Lesern der Postkartenmaler Adolf Hitler zählte. 1918 schloß Hitler sich in München dem Dunstkreis der sogenannten „Thule-Gesellschaft“ an, die, orientiert an den Tiraden Lists und Lanz’, ein klares Ziel verfolgte: Spirituell-politische Weltherrschaft der arischen Rasse. 1919 gründete sich aus der Thule heraus die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), die kurz darauf in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umbenannt wurde. Unbestreitbar wurde der Nationalsozialismus aus solch esoterisch-okkulten Quellen mitgespeist.

Die heutigen Vertreter des „neuen Bewußtseins“ führen die Ideologie der Theosophen ungebrochen fort. Sie sagen es nur nicht mehr laut, daß die Slums und Elendsviertel, die Kriegsschauplätze dieser Welt Tummelplätze für niedrigere Seelen sind, denen nur Recht widerfährt. Nur ab und zu erfährt man, was sich tatsächlich hinter der biederen Fassade von Meditationszirkeln und Lichtkreisen verbirgt: Wenn etwa New-Age-Führer wie David Spangler oder Sir George Trevelyan, Träger des „Alternativen Nobelpreises“ und „spiritueller Berater“ von Prinz Charles, über „Euthanasie minderwertigen Lebens“ schwadronieren. Oder wenn der Berliner Szeneautor Tom Hockemeyer, bekannt als Trutz Hardo, den millionenfachen Mord an den Juden verklärt als „karmischen Ausgleich“ für irgendwelche Verfehlungen, deren diese sich in früheren Leben schuldig gemacht hätten: der Holocaust insofern sei das „Bestmögliche“ gewesen, was den Juden habe zustoßen können." (http://www.agpf.de/Goldner+Therapie.htm)

Das Leben mag sterben. Doch der Tod darf nicht leben!

Es geht bei allen Entspannungsübungen, die esoterische Coachs anbieten, zum Einen tatsächlich auch um eine Art und Weise, wie man sich mal entspannen kann, in der Pause, im Bus oder sonst wo. Das unterscheidet sich praktisch nicht unbedingt von anderen Arten der Selbstberuhigung, wie sie hie und da mal nötig ist. Aber wesentlich ist für das Esoterische daran, dass mit der Ruhe ein kosmisches Gefühl einkehren soll, dass eine triviale Selbsterfahrung als Medium einer Unendlichkeit vergeistigt wird. Bei aller Körperlichkeit verinnerlicht sie ein geistiges Prinzip, das sich aller Notwendigkeit enthoben sieht und darin alle Dimensionen verwischt. Eine schlichte Atemübung mit den entsprechenden Entlastungen wird zu einer übermenschlichen Welterfahrung, über die nichts mehr zu sagen ist.

Esoterik ist ein Lebensgefühl, das vor allem ein allmächtiges Selbstgefühl ist. Ihr Verhängnis ist ihre Sprachlosigkeit, ihre vorsprachliche Selbstbefriedung. Sie behauptet als Welterleben, was nichts anderes als die Bestärkung einer Selbstbeziehung ist. Ihre Urteile beruhen alleine auf dem, wie etwas empfunden wird. Und durch sie wird dann jede Beziehung, die ursprünglich auf gegenständliches Leben, auf Wirklichkeit, gerichtet war, in ein Selbstgefühl gewendet, das jeden Gegenstand subjektiviert, ihn zum Mittel einer Selbstwahrnehmung herabsetzt. Darin sind dann die Eindrücke auf die bloße Art und Weise reduziert, wie sie einen Menschen unmittelbar bewegen, wie sie also alleine ihm gelten, aber - mit der Abhebung in eine Verallgemeinerung seiner selbst - zu einem kosmischen Subjekt geworden sind. Alles wird auf der Ebene des Selbsterlebens einfach und sieht sich im Hochgefühl der Selbstwahrnehmung einzelner Menschen allgemein beantwortet. Man folgt der höheren Ordnung, die sich im Bewusstsein der Menschen vollzieht, anstatt sich ein Bewusstsein entfremdeter Ordnung zu bilden. Einem Bewusstsein zu verkehrten Lebensverhältnissen wird so jede Grundlage entzogen. Die Verkehrung findet in den Menschen selbst als Verkehrung ihres Bewusstseins statt. Mit Körpertechniken, die Erfahrungen bieten, als evidente Selbsterfahrung genommen werden, wird eine Sprachlosigkeit nicht nur bestätigt sondern auch erzeugt, die jedes Leiden verstummen lässt und jede Beziehung in bloße Selbstwahrnehmung auflöst. Die Sprache als Brücke zur Welt zergeht von alleine, verstümmelt auf irgendeinem Merkzettel schlafloser Nächte vielleicht noch, deren Erkenntnisinteresse - und damit auch jede Kritik - mit dem Anbruch des Tageslichts verflogen ist.

Die Auslöschung des gegenständlichen Erkenntnisinteresses ist die gravierendste, weil folgenschwerste Nachwirkung esoterischer Wahrnehmungsübungen überhaupt. Da diesen schon eine Mystik unterlegt ist, werden die Menschen systematisch abergläubisch, je mystischer ihnen hierdurch wiederum die Zusammenhänge werden. Und durch das innere Leuchten ihrer Selbstwahrnehmung werden sie gegen jede Wirklichkeit gefeit. Ihr wesentliches Ziel ist die Abschirmung gegen Verunreinigung schlechthin. Das Grundelexier alternativer Selbstverwirklichung mit einem Coach der Selbstbeglückung ist dem Geborgenheitsbedürfnis des reaktionären Bewusstseins sehr nahe. Schutzbedürfnis sucht Befriedung, nicht eine wirkliche Kritik der Verhältnisse. Behütetes Leiden stellt sich wie von selbst gegen jede emanzipatorische Tätigkeit. Und je drängender das Leiden, desto umfassender wird der Bedarf des sich selbst mystischen Bewusstseins, der Bedarf an einer Selbsterfahrung, die sich in einer Bereinigungsideologie fixiert, deren wirkliche Dimensionen keinen Zugang mehr zu wirklichem Wissen hat. Die Selbstauflösung der Kritik geht auf in einer allseitigen Dramatisierung des eigenen Leidens, das umso dramatischere Hilfsrituale benötigt, je größer die Selbstverdummung dabei wird. Das erläutert dann auch kein Beipackzettel, versteht sich. Und wenn das Geschäft damit gut läuft, dann schließt sich der Kreis.

Eine Alternative zur Welt gibt es nicht. Wir können sie nur ändern. Und wer an einer Änderung seines wirklichen Lebens und seiner Welt nicht mehr interessiert ist, kann leicht im Brei einer therapeutischen Gesellschaft untergehen. Jede Wirklichkeit und jedes Unbehagen verschwindet in der Behandlung, in der Therapie eines am Individuum festgemachten Mangels, und die Therapie wird zur Behaglichkeit des Therapeuten, der damit seine Existenz verewigt. Mit übermenschlicher Befähigung erscheint er als Seelenflüsterer für alle Fälle und wird zum Psychokraten, der alles in den Griff bekommt, ohne dass er auch nur irgendetwas begreifbar machen und ohne dass er auch nur eine seiner Therapien auch wirklich zu Ende bringen muss. Da wird Krankheit selbst in einen unendlichen Regress verworfen, gerade weil ihre Ursache dann keine Bedeutung mehr hat.

Das Leben geht immer weiter, auch wenn es nur noch aus der Vorbeugung des Todes besteht, aus einem reinen Überleben, wie es Martin Heidegger als Sein zum Tode auch noch philosophiert hatte. Er wolte damit dessen Endlichkeit zu einem unendlichen Prinzip machen (5). Das ist der Kern der Spießerei, die den Nazi-Philosophen im April 1933 zum Uni-Rektor nach Freiburg befördert hatte. Die wirkliche Lebenskraft ist damit entmündigt, der Tod das herrschende Prinzip einer allsüchtigen Selbstaufopferung. Der Heiler heilt sich damit vor allem selbst, wird zu einem allzeit und allgegenwärtigen großen Bruder, wie ihn gleich nach dem Nazi-Krieg George Orwell als Allgewalt gegen das einzelne Leben ausgemacht hatte. Er wird zu einem „perpetuierlichen Arzt“, wie ihn auch schon 100 Jahre zuvor Karl Marx beschrieb:

„Durch eine ärztliche Kuratel wäre das Leben als ein Übel und der menschliche Leib als Objekt der Behandlung für Medizinalkollegien anerkannt. Ist der Tod nicht wünschenswerter als ein Leben, das bloße Präventivmaßregel gegen den Tod (ist)? Gehört freie Bewegung nicht auch zum Leben? Was ist jede Krankheit (anderes), als in seiner Freiheit gehemmtes Leben? Ein perpetuierlicher Arzt wäre eine Krankheit, an der man nicht einmal die Aussicht hätte, zu sterben, sondern zu leben. Mag das Leben sterben: der Tod darf nicht leben. Hat der Geist nicht mehr Recht als der Körper? Allerdings hat man dies oft dahin interpretiert, daß den Geistern von freier Motion die körperliche Motion sogar schädlich und daher zu entziehen sei." (MEW 1, S. 59)

 


(1) Dies betrifft lediglich die Begründung der Akupunktur aus den körperlich auszumachenden "Energieströmen". Ihre Wirksamkeit ist dennoch unbestritten. Sie besteht wohl aus der Aktivierung von Abwehrkräften des Körpers durch multiple Mikroverletzungen.

(2) Es sind Gefühle der Gefährdung durch materielle Einwirkung, welche ganz allgemein die kosmische Natur des Lebens gefährden, z.B. chemische Substanzen, Strahlungen, Elektrizität usw., deren spezielle Wirkung nicht weiter ergründet werden muss, sondern als selbstredend unterstellt ist. Nicht eine bestimmte materielle Gefahr muss demnach erkannt werden, sondern die ungute Kraft von fremd empfundenen Teilchen, die den freien Energiefluss in uns behindern. Man muss nicht mehr darüber streiten, wieweit z.B. elektromagnetische Wellen oder elektrische Spannungen für Mensch und Natur gefährlich werden können, sondern weiß es einfach schon aus Intuition. Man weiß es durch die Dimension der eigenen Gedanken. Um solche Erkenntnisse aus dem Bauchgefühl heraus zu popularisieren, wird oft die zunehmende Angst in der Bevölkerung vor Umweltschädigungen durch einfältiges Wissen zu einer Objektivität potenziert, die eine wissenschaftliche oder gar persönliche Hinterfragung praktisch unmöglich macht.

So sieht z.B. ein  Dr. Mutter aus Freiburg die Zunahme des ADSH-Syndroms, also die Zunahme der sogenannten „Zappelphilipkrankheit“, in zeitlicher Korrelation mit der Zunahme der Schnurlostelefone und „erkennt“ auf diese Weise einen Zusammenhang in der Entstehung dieser Krankheit mit Strahleneinwirkung. Mit derselben Korrelation könnte er „beweisen“, dass die Kinder vom Storch gebracht werden, denn die Abnahme des Storchenflugs korreliert hochgradig mit der Abnahme der Geburtenrate. Selbstdarsteller führen sich mit objektivistischen Übertreibungen gerne als „kritische Wortführer“ auf und bedienen damit ein grenzenloses Schutzbedürfnis, die Sehnsucht nach der heilen Welt, wie sie in den Nischen unruhiger Herzen schon immer angelegt ist. Diese Sucht lässt sich auch leicht in einen blinden Hass wenden, der sich ähnlich objektiv versteht. Sie kann leicht und plötzlich in rechtsradikalen Aktionen aufgehen, weil sie eine Identität jenseits der Wirklichkeit stiftet, die sich durch bloße Ideen und Idealisierungen selbst veredelt. Wo Religion noch der Seufzer war, der an einen Übermenschen gerichtet ist, kann durch solche Entwicklungen der Übermensch zum politischen Helden werden. Das kennt man schon.

(3) Es ist die Zunahme von psychischen und körperlichen Leiden unbestritten. Depressionen, die heute oft auch als Burn-Out-Syndrom beschrieben werden, haben rasant zugenommen. Ebenso die Selbstmordrate. Die  Zwangseinweisungen in die Psychiatrie haben sich allein schon in den letzten 10 Jahren verdoppelt.

So herrscht ein munteres Treiben von Therapien und Lebenshilfen: ein Tröpflein Wunderwasser hier, ein kinesiologischer Muskeltest dort, eine Handauflegung und dann noch ein bisschen Nirwana, das sich auch durch Druck auf Stirn auf bestimmte Körperstellen übertragen lässt. Probleme erkennt man jetzt vor allem symbolisch, durch Muskeltests oder Aufstellungen oder einfach aus den Dimensionen des Kosmos, aus „energetischen Bewusstseinszuständen“, die Ruhe in das Chaos bringen. Mit Übungen und Techniken werden „Erkenntnisse der anderen Art“ - also in Richtung „Erleuchtung“ - entstehen, welche die Probleme an Ort und Stelle verschwinden lassen, und zwar schnell und auch nur dort.

(4) Mit Prozeduren an Leib und Seele wird dem Krebs vorgebeugt, mit „Ausleitungen“ von Giften Vergiftung zurückgefahren,  mit Betriebs- oder Familienaufstellungen  innere Verspannungen und Konflikte aufgestöbert, lange bevor man sie erkennen kann, versteht sich. Es klingt alles ja so schön und gut, die Bemühung um eine heile ausgeglichene Welt. Aber das alles soll ohne wirkliche Welt auch möglich sein. Die vielen psychologischen Berater und laienmedizinische Praktiker sind schon da und neue treten permanent hinzu. Der große Bruder für jeden Mann, die große Schwester für jede Frau, der Papi und die Mammi für jedes Weh und Ach und jede Frage hat schon Gestalt bekommen. Solche Berater werden schon irgendwie Erfolg haben, wenn die Leute dann schon mal gekommen sind. Denn den gibt’s immer, auch wenn meist ein gutes Gespräch von Mensch zu Mensch, ein klein bisschen mehr Selbstbewusstsein durch kleine Erfolgserlebnisse, ein klein bisschen mehr Mut zur Klärung lebenswichtiger Fragen und anderes gefunden würde. Aber man sieht sich lieber in der Hand eines Allwissenden, eines Heilers, der auch Wunder verspricht, ein Profi für alle Lebenslagen, der kein Profi ist, schon deshalb, weil das damit verdeckte wirkliche Leben überhaupt keiner Profession zuzuordnen ist.

(5) Zum Prinzip erhoben wird das Fakt (oder die Empirie) unendlich, gerade weil es Unendlichkeit beschränken soll. Es wird damit die Absurdität eines unendlichen Wesensbegriffs absolut. Und das ist auch die wesentliche Absicht der Heidegger'schen Fundamentalontologie. Weil alles Lebende durch den Tod begrenzt ist, wird Leben selbst zu einem Phänomen des Todes. Ein Wahnsinns-Umkehrschluss, der den Naziphilosophen zwar zu einem Unirektorat im Dritten Reich verholfen hat, aber allem widersspricht, was die Natur und Mensch entwickelt haben. Gerade weil der Tod des Individuums lebensnotwendig für den Fortbestand einer Gattung ist ("Der Tod ist die Kränkung de Individuums" - Marx), muss er aus dem Lebens selbst begründet gelten.