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Die Familie oder die persönliche Welt

Von der Welt der Person zur Persönlichkeit

Die Menschen haben es noch nicht erreicht, daß die Welt menschlich ist. Aber persönlich ist sie ihnen längst und gerade deshalb. Dort, wo sich die Personen selbst Welt sind, wo für ihr Leben keine andere Welt mehr gültig ist, dort, wo sie sich selbst als Lebensgrundlage haben, können sie sich auch durch ihre Persönlichkeit in ihren zwischenmenschlichen Verhältnissen selbst verweltlichen. Dies ist das Resultat des bisher beschriebenen Wahrnehmungsprozesses unter bestimmten ökonomischen Bedingungen (vgl. Türspalt Nr. 7-9: Was heißt da: Psychisch krank? Teil I-III). Der Lebensraum, in welchem dieses Verhältnis selbst zur Blüte und zu abgeschlossener Wirklichkeit kommt, ist die Familie.

Obwohl sich aber die Menschen in der Familie als voraussetzungslose Persönlichkeiten erscheinen, drückt sie gerade in dieser scheinbaren Vorraussetzungslosigkeit das Produktionsverhältnis aus, in welchem sie existiert; - sie hat dieses nicht nur als äußere Bedingung, sondern ist selbst dessen Bestandteil. Noch im Merkantilsystem war die Familie identisch mit der Arbeitsgemeinschaft der jeweiligen Zunft; im frühen Kapitalismus war sie die Haushaltungsgemeinschaft der Arbeiterklasse. Erst im Imperialismus ist sie zur Kulturgemeinschaft wirklich unabhängig (»frei«) lebender Geldbesitzer geworden. Indem die Familie aber selbst zur Lebensgemeinschaft von Geldverdiener und Geldverbraucher (5) geworden ist, ist sie wirklich und vollständig abgetrennt von allen anderen gesellschaftlichen Prozessen und kann sich selbst wie ein Freiraum des persönlichen Lebens vorkommen, wie absolute Freizeit.

Allen Familien ist gemein, daß in ihnen das natürliche Gattungsverhältnis der Generationen in irgendeiner Form bewahrt ist. Von da holen sich auch die Propagandisten der bürgerlichen Familie ihre Argumente: Familie ist der Ort, wo »das Menschliche« gedeiht wie ein ewig wiederkehrender Naturkreislauf individualisierter Lebensereignisse von Geburt, Ehe, Elternschaft bis zum Tod. In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es in der Tat keinen anderen Raum, in welchem das bürgerliche Leben natürlich erscheinen kann und die Generationen in Gesellschaft sind.

Daß der bürgerliche Staat sein besonderes Augenmerk auf die Familie richtet, liegt aber vor allem daran, daß diese der einzige Garant für bürgerliche Identität ist. In dem Maß, wie der öffentliche Umgang, wie die allgemeinen Lebens- und Produktionsverhältnisse verrohen, muß eben die Stätte, worin sich die Menschen noch als Mensch zu begegnen scheinen, besonders geschützt werden. Gerade wo die gesellschaftliche Öffentlichkeit zunehmend und sichtbar unangemessen für menschliche Lebenszusammenhänge wird, da muß der Staat auf den individualisierten Menschen zurückgreifen. Wo es keine gesellschaftliche Öffentlichkeit gibt, da hat das Familienleben Hochkonjunktur. Der Gegensatz von Privatheit und Öffentlichkeit, wie er schon in der bürgerlichen Produktionsweise angelegt ist, entwickelt sich erst dann zum absoluten Gegensatz, wenn das öffentliche Leben keinen Sinn mehr hat, wenn also das Geldverhältnis einziges öffentliches Verhältnis geworden ist (d.h. wenn eine Nation vollständig zum Geldbesitzer, zum Imperialisten geworden ist). In einer solchen Nation ist der Mensch absolut für sich und lebt auch dem Zwang zu seiner Lebenserhaltung gegenüber unangemessen, wenn er keine Familie hat. Dies ist der bürgerlichen Familie als ihre Existenzbedingung vorausgesetzt. Da sie für sich aber unmittelbare Lebensgemeinschaft ist, läßt sich darin gerade diese Welt ertragen, wenn und solange die in der Lage ist, die materiellen Lebensgrundlagen für familiäres Leben bereitzustellen; - und dies ist ja eben in solchen Nationen gegeben. So bleibt auch eine für das menschliche Leben absurde, d. h. sinnwidrige Gesellschaft über ihre eigene Bodenlosigkeit hinaus »gesellschaftsfähig«.

Die bürgerliche Familie ist für den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft vor allem deshalb unabdingbar, weil in ihr das gesellschaftliche Leben als unmittelbar menschliches Leben erscheint und daher durch sie das familiäre Leben als unmittelbar gesellschaftliches Leben behauptet werden kann. Die Gesellschaft, welche die Menschen durch ihr Zusammenwirken erst erzeugen, gilt hier als die Bedingung ihres Lebens, als Voraussetzung ihres Tuns, als natürliche Gewalt, die schon in ihr Verhalten einwirkt, bevor es verwirklicht ist. Durch die Familie wird eine Naturgemeinschaft gesetzt, die dem einzelnen auch die einzige Gesellschaft ist. Hierdurch aber ist die Gesellschaft bereits per Geburt in jedem einzelnen, bevor er seine Gesellschaft erzeugen kann, und zugleich ist die Gesellschaft außerhalb von jedem einzelnen, bevor er überhaupt darin sein kann. Das heißt: Gesellschaft wird so zum unmittelbaren, also mittellosen Zusammensein von Menschen herabgesetzt und zum unbefragbaren, unabänderlichen menschlichen Lebensprinzip, also zur mächtigen Allgemeinheit über den einzelnen Menschen, sein Leben und Bewußtsein.

Den Standpunkt haben Staat und Familie gemeinsam: Gesellschaft gilt nicht als Ausdruck und Resultat menschlichen Lebens, sondern als dessen Bedingung. Und dies wird in der Familie ja auch wirklich erfahren. Auf diese Weise behalten die Gemeinschaftskundebücher ihr Recht: »Die Familie ist die Keimzelle des Staats.« Sie ist die effektivste staatliche Anstalt für die Anpassung der Menschen an eine Gesellschaft, die Macht über sie haben will; sie ist die Anstalt für die Anpassung des Menschen an die Funktionen und Moralismen des Staats, für Ruhe und Ordnung, Sauberkeit und Wohlfahrt. - Schauen wir uns deshalb mal genauer an, wie es in der bürgerlichen Familie zugeht.(S. IV/39)

Bedingungen des Familienlebens

Wir haben im letzten Teil (Kampf um die Persönlichkeit) gesehen, daß die Familie auf einem Mangel der Ehe selbst gründet, daß ihr also eine Geschichte vorausgesetzt ist, in welcher die Ehe, die bürgerliche Institution zwischenmenschlicher Liebe, zwangsläufig zur Selbstauflösung käme, wenn kein Kind geboren würde. Mit der »Ankunft« eines Kindes spricht man von einer Familie.

Ein Kind wird also nicht nur auf die Welt gebracht, sondern vor allem in eine Familie gesetzt. Es ist von vorne herein Bestandteil eines Lebenszusammenhangs, der nicht durch es gegründet, aber erst durch es erfüllt ist: Die Ehe bekommt erst durch das Kind ihren wirklichen und vollständigen Sinn.

Und hierdurch scheint zunächst auch das Leiden an der Ungegenständlichkeit der ehelichen Liebe, ihre Abgetrenntheit von jedem menschlichen Gestaltungsprozess, überwunden, denn ein großes Loch ist gefüllt - mit Haut und Haar und allem, was einen Menschen ausmacht. Aber gerade diese Bedingung für die Geburt eines neuen Menschen geht in sein ganzes Leben ein.

Dieser Mensch ist von vorne herein für vieles da, was er gar nicht erfüllen kann, aber schon durch sein Dasein füllt. Und seine Eltern haben ihr »gutes Recht« dabei: Wieviele Opfer, Sorgen, Nerven und Kraft müssen sie aufbringen, um einen Menschen in einer Gesellschaft zu entwickeln, der nur in ihnen seine Welt und nur durch sie sein Leben haben darf! Und schließlich erleiden sie ja den Zwang zur privaten Selbsterhaltung, den Entzug an gesellschaftlichem Zusammenhang jetzt erst wirklich und endgültig als das »Schicksal« ihrer persönlichen Überlebensfähigkeiten - ihre Existenzangst ist um gerade das vervielfacht, was ihnen an gesellschaftlicher Bildungsmöglichkeit abgeht. Der Zwang zur bürgerlichen Lebensform setzt sich eben erst vollständig durch, wenn Menschen nicht mehr nur für sich da sein können, wenn ihr Leben nicht mehr nur das handelsübliche »Risiko« absurder Lebensverhältnisse übernimmt, sondern wenn dieses sich zugleich in anderen Menschen ausdrückt, bestimmt und fortpflanzt. Die Familie macht dadurch für die Eltern die Anpassung an die bürgerlichen Lebensverhältnisse notwendig, daß sie deren Leiden als Elend ihrer Kinder, und das heißt jetzt ihres Lebens durch ihre Kinder sein läßt.

Ob sie ihr Kind gewollt hatten oder nicht, ob sie es lieben oder hassen, ob sie es anpassen oder frei lassen oder ob sie meinen, durch eigene oder fremde Kraft dies alles bewältigen zu können, ist völlig gleichgültig gegenüber dem, was sie hierbei in »ihrem Staat« wirklich sind. Der hat einen guten Grund, das Kinderkriegen als Privatsache zu behandeln und sich auf die Privatheit dieses Verhältnisses zu verlassen: Ein guter Staatsbürger entsteht am besten dort, wo er geboren wird; – in einem gut bürgerlichen Lebensverhältnis. Dazu gehört eben, den Säugling auf eine innige (enge) Beziehung zu seiner Mutter zu reduzieren, die Zukunft eines Menschen als seine Fähigkeit zu entwickeln und ihm eine Welt zu konfrontieren, auf die er sich einfach einstellen muß. Schließlich hat der bürgerliche Staat ja auch nichts anderes zu bieten. Er ist durch die Familie auf jeden Fall bestens abgesichert, egal, wie sich die Menschen darin vorkommen: Würden ihnen die Zwänge, die bereits vor ihnen da sind, durch den Staat mitgeteilt, so hätte er die Kinder unmittelbar als Feind. Nur dadurch, daß diese objektiven Bestimmungen durch Leiden und Mitleiden der Eltern, also dadurch, daß Objektives subjektiv mitgeteilt und Subjektives objektiv gelebt und aufgegeben wird, kann er in seiner Funktion fortbestehen. Dem Staat ist Geldbesitz vorausgesetzt, und deshalb ist es hier auch überhaupt keine Frage des Geldes, ob er öffentliche Entwicklungsprozesse dulden kann oder nicht. Er wäre durch sie unmittelbar bedroht. So natürlich, wie es scheinen soll, ist eben das Leben doch nicht und deshalb können die Menschen ihm gegenüber nicht einfach wachsen und werden: sie müssen etwas werden! Es geht hier also um die Erziehung des Menschen zum Staatsbürger, – und diese muß privat und in abgegrenzter Intimität verlaufen.

Er-ziehen kann man nur auf ein Ziel hin, nämlich auf das, was aus einem Menschen werden soll. Das heißt, daß aus dem, was er ist, das gemacht werden muß, was er sein soll. So findet die Vorwegnahme der Gesellschaft als Gewaltakt des Erziehungsprozesses selbst statt (siehe auch erzieherischen Beziehung): Was diese mit einem Menschen machen kann, das muß zunächst an ihm selbst gemacht werden. Er muß in der Lage sein, sich um seinen eigenen Nutzen zu kümmern, und er muß sich beschränken können, wo sein Eigennutz schrankenlos gesetzt ist, denn nur wenn beiderlei gewährt ist, kann eine Gesellschaft, die auf der Entfaltung des Eigennutzes gründet, fortbestehen. Die elterliche Erziehung hat das Kunststück zu vollbringen, einen Menschen mit vorweggenommenen Gesellschaftsattributen auszustatten, die sie zugleich auch erfüllen muß: mit allen Variationen des Eigennutzes.

Aber diese Aufgabe der Eltern als Träger der Gesellschaft ist nicht identisch mit ihrem Verhältnis zu ihren Kindern6. Identisch ist, daß die Familie selbst als Form des Eigennutzes existiert. In der Familie nutzen die Familienmitglieder von vornherein die Vergemeinschaftung der Generationen zu einem abstrakten Lebenszusammenhang der »Subjektivität«. Und von daher müssen sich Eltern erziehend zu ihren Kindern verhalten (7). Ohne Erziehung nämlich wäre der Verrat an der eigenen Generation, der hiermit gegeben ist, offenkundig: Ein jeder müßte seine Not als wirklich menschliche Not seiner bestimmten Existenz ansehen.

Die Vergemeinschaftung gegensätzlicher Generationen zu einem Familienmenschen ist daher auch die eigentliche Gewalt der Familie. Und diese besteht als Liebe. Die Familie selbst hat ja keinen anderen Boden als das, was sich die Menschen darin tun oder antun. In ihr muß Liebe als existenzielle Grundlage gelten und das heißt, daß die Familienmitglieder sich lieben müssen. Sie müssen das füreinander tun, was sie als Liebesgemeinschaft erhält, solange, wie ihre Familie erhalten bleiben soll.

Die Familie gründet also auf einem Schuldverhältnis, in welchem Liebe Pflicht (siehe auch Lebenspflicht) ist. Und dieses Verhältnis hat seine eigene Geschichte.

Der Familiensinn

Menschen bilden ihre Geschichte, indem sie sich gestalten und das, was ihnen so zu eigen wird, als ihre eigentümliche Wirklichkeit, als ihr Eigentum haben. Die Familiengeschichte ist die Geschichte der Enteignung menschlicher Liebe für eine Existenz, welche durch sich selbst schon Eigentumslosigkeit verlangt. Gerade indem Liebe Selbstverständlichkeit der Familie ist, erzeugen darin die Menschen das, was sich von selbst als Liebe versteht. Sie äußern sich so, wie sie verstanden werden; sie vergegenständlichen sich, wie sie füreinander Gegenstand sind: ihre Liebe füreinander als Selbstvergegenständlichung, ihre Gegenständlichkeit als Selbstverlust. Sie leben im wechselseitigen Besitz der Eigentümlichkeit des anderen und entwirklichen gerade in diesem Verhältnis das, was sie ohne den anderen sind. Zugleich ist das Resultat dieses Selbstverlusts, die Selbstlosigkeit, das Selbstverständnis der Familienmitglieder, das sie füreinander haben. Die Eigennützigkeit, die schon in der allgemeinen bürgerlichen Existenzweise gesetzt ist, hat innerhalb der Familie einen Kreislauf von Selbstvergegenständlichung zu Selbstverlust und von Selbstlosigkeit zu eigennütziger Selbstverständlichkeit. So bildet sich ein Familiensinn, der daraus besteht, diese Selbstlosigkeit als Eigennützigkeit zu verwirklichen.

Die Eltern sind in der Regel die aktiven Vertreter der Familiengeschichte und insofern jene, in denen sich das Familienleben in diesem Sinn zusammenfaßt. Ihnen erscheint es so, als ob sie sich für ihre Kinder hingeben. In Wahrheit gewinnen sie das Leben ihrer Kinder zur Bestätigung und Erhaltung ihrer Welt. Ihre Kinder müssen ihre Eigentümlichkeit verlieren, um für diese Welt zu werden.

Dies ist schon durch das sog. Rollenverhältnis von Eltern und Kindern gegeben. Indem die Eltern »für ihre Kinder da sind«, haben die Kinder in ihnen ihr Sein, die Einheit ihrer Sinne. Und indem die Eltern ihnen diesen Zusammenhalt geben, haben sie in ihren Kindern die Verwirklichung ihres Lebens, Ausdruck ihres Herzens: Liebe als Seele. Deshalb kann auch niemand einen Menschen gezielter verkennen, wie Eltern ihre Kinder, denn niemand gibt einem Menschen mehr von sich mit und kann deshalb auch fast nichts anderes sehen, als was ihm somit überhaupt gegeben erscheint. Obwohl die Kinder selbst vielfältig sinnlich sind, ist in ihnen nur der einfältigste Sinn ihrer Familie bestätigt. Sie müssen ihre Sinnesentfaltung dem Gebot der elterlichen Seele opfern und ihr eigenes sinnliches Sein im Gegensatz zu dieser Seele leben. Das verlangt aber nicht nur Opfer: Schließlich hat dieses Verhältnis vor allem das Wohlergehen jedes einzelnen zum Ziel; – wie sonst könnte es sich als Liebesverhältnis erhalten?(S. IV/40)

Der Verlust sinnlicher Entfaltung geschieht durch die Wohltaten, die sich die Menschen in der Familie antun. Da meint es jeder gut und hat ein schier grenzenloses Vertrauen auf seine zwischenmenschliche Potenzen, die ja nur scheitern können, wenn die Familie scheitert. Auf der Ebene dieses Selbstverständnisses ist die Familie zunächst die Herzensheimat für Mann, Frau und Kind; - das Nest geborgener Sinne, Stall der Seele. Die Wohltaten bestehen ja auch nur daraus, daß man einander gut ist und gut tut. Und so ist das Schlechte von vorneherein außerhalb, irgendwo in der Welt, im Ungeheuer, das man nicht nur dienstagabends in »Dallas« sondern schon in jedem Kindermärchen mit dem Gefühl der selbstgerechten Welterfahrung mitvollziehen und mitvollstrecken kann.

Die Familie bietet den Kindern eben vor allem den Familiensinn, also einen Sinn, den sie nicht erkennen können, weil und solange sie ihn leben müssen. So gestaltet sich in der Familie eine Seele, ein Geist, der keinen Sinn hat und verwirklicht sich ein Sinn, den man nicht erkennen kann. Was Herz war, wird als Herz gehabt, – und in dieser Form ist es dem Sinn nach nichts. Und was herzlich ist, ist als Herz des Beisammenseins geistlos. Aber beides in einem, das herzliche Verhältnis in dem, was man an Herz hat, das ist das vollkommene Familienleben, Hochzeit und Blüte des Selbstgefallens. Gerade was für sich leer und gegensätzlich, das wird durch die Familie als ein übergroßes WIR zum Lebenskern einer absurden Gemeinschaft. In der Liebe innerhalb der Familie vollzieht sich so der Gegensatz von Geist und Sinn, den sie in den Wohltaten vollstreckt. Die Geschichte, die ein Mensch in der Familie durchmacht, ist in ihm daher auch zugleich Zustand einer Gemeinschaft, die nicht nur außer ihm, sondern vor allem in ihm lebt und wirkt und erstellt von da her eine Gefühlsgrundlage für einen langen Abschnitt des Lebens, bis er eine andere Geschichte findet (8).

Ein Mensch, der unter der Macht solch entwirklichter Prozesse steht, kann sich nicht verwirklichen, ohne zugleich seine Wirklichkeit zu verlieren. Indem er sich auf andere bezieht, muß er sich immer zugleich erst auf sich selbst beziehen. Das heißt: Er kann sich wirklich nur auf andere beziehen, wenn er seine Innenwelt hierbei überwindet und er überwindet zugleich durch seine Innenwelt den wirklichen Bezug auf andere. Die Familie erzeugt und bestätigt so und in der Weise notwendig die Trennung von einem Innenleben und einem Leben mit anderen Menschen. Und das Innenleben, was so gesehen zunächst »nur« als unwirkliches Gefühl, als »seelische Regung« (Freud) (9) angesehen wird, offenbart im Grunde die Wirklichkeit der Familie selbst. Je glücklicher eine Familie war, desto trauriger sind ihre Resultate.

Ein Mensch kann als solcher überhaupt nicht unwirklich sein. Er wirkt, wo er lebt. Und jene Gefühle, welche keine gesellschaftliche Wirklichkeit erhalten, verkörpern die Wirklichkeit eines Familienlebens, das keine Gesellschaft hat. Es sind Sinnesäußerungen, die sich von anderen nur darin unterscheiden, daß ihr Gegenstand, ihre Welt nicht unmittelbar erkennbar ist.

Indem das Zusammenleben der Menschen in einer Familie von einem Sinn gesetzt ist, der in der Familie nur vermittels der Eltern existiert, ist der Zusammenhang der Familienmitglieder darin nicht einfach und wie von selbst seelisch: Nur dadurch, daß er innerhalb der Familie objektiv notwendig ist, also nicht als fremder Sinn erkannt werden kann, wird er seelisch wahrgenommen und aufgrund dieser Wahrnehmung wird jeder Zusammenhang erst zum seelischen Zusammenhang. Was die Menschen voneinander nehmen, das müssen sie auch erzeugen. Und deshalb wird der seelische Zusammenhang erst durch die Familie vollständig und absolut erzeugt.

Das Verlangen nach und der Zwang zu diesem seelischen Verhältnis geht von den Eltern aus und wird von den Kindern verwirklicht, d.h. produziert. Es sind also die Kinder, welche sich in einer Familie unmittelbar menschlich verhalten und äußern müssen, wohingegen die Eltern diese Menschlichkeit nur vermittelt tragen, nämlich in seelischer Form zusammenfassen.

Diese Vermittlung, wiewohl sie so subjektiv und individuell erscheint, ist ungefähr genauso objektiv, wie die Gliederung des Arbeitsprozesses durch das Kapital. Es gibt darin eben auch nur das, was Menschen unter jenen Bedingungen erzeugen können, die sie sich gegeben haben und leben. Und hier handelt es sich um die Produktion von zwischenmenschlichen Gefühlen.

Produktion unterstellt immer einen Stoff, der verarbeitet wird. Der Stoff der Familie sind die Menschen selber, welche ihre Geschichten, ihre »Welterfahrungen«, ihre existenziellen Nöte und Sorgen, ihr gesellschaftliches Elend und dergleichen, kurz: ihre Wirklichkeit, als zwischenmenschliches Erleben aufbereiten. In diesem Erleben verschwindet die Gewalt des Wirklichen und wird zu einer seelischen Gestalt, in welcher die Welt überwunden, d.h. schon in positiver Form genommen ist. Aus Verzweiflung wird Sehnsucht nach Glück, aus Versagen wird Geborgenheit, aus Angst wird Freude an der Gemeinschaft, wenn die Menschen darin zusammenkommen. Und dafür sind sie ja da.

Es wird also im Grunde in der Familie gar nicht die Wirklichkeit aufgehoben, sondern in umgekehrter Form produziert. In der Familie findet die Verkehrung von Wirklichkeit statt. Die Familie ist das positive Abbild aller Mängel und Negationen, welche die Menschen in der Welt erfahren; - positiv durch die Kinder.

Ob die Kinder es merken oder nicht, sie leiden objektiv an dieser positiven Aufsaugung ihrer Wirklichkeit. Sie haben diese Wirklichkeit in Fleisch und Blut und leiden zugleich an der widersinnigen Form, in welche sie darin gestellt sind. In ihnen tritt das Negativ dieser Welt als wirkliches Fühlen auf: Als Wirklichkeit der Gefühle. Scheinbar ganz ungegenständliche Ängste machen sich da breit: Angst vor dem Keller, Angst vor Staubsaugern, Angst vor dunklen Gestalten, Angst vor der Nacht, Angst vor der Tiefe, Angst vor der Höhe, Angst vor Einengung, Angst vor Verfolgung, Angst vor Vergewaltigung, Angst vor Vampiren und dergleichen mehr. Aber so ungegenständlich diese Ängste erscheinen, so sinnvoll sind sie zugleich: Die Angst vor Vergewaltigung ist doch nichts anderes als die Umkehrung der vollzogenen Vergewaltigung, also dem, was schon in der Familie seelisch geschehen ist, bevor es sinnlich sein darf. Und warum sollten sie nicht auch empfinden, daß sie in vampirischen Verhältnissen stecken? Der schwarze Mann verkörpert auch nichts anderes, als jene Ungewißheit und Dunkelheit, die sich über das Fremde legt, das in der eigenen Welt gebannt ist, – eben weil das Eigene fremd ist. Und die Angst vor dem Keller ist auch nichts anderes als die Angst vor einem Untergrund, welcher ungewiß und zugleich bedrohlich ist. Neuerdings »klagen Eltern immer häufiger« darüber, daß ihre Kinder ihr Haus anzünden wollen! - Kein Wunder: wenn das Haus unendliche Sinnlosigkeit erzeugt, da lebt es eben nur, wenn's flackert!

Der Lebenszusammenhang ist in der Familie ein Konglomerat aus Gefühlen, die alle jeweils für sich und abgeschlossen den Zustand dieses Verhältnisses ausdrücken; – Gefühle auf der Grundlage eines in sich schon verkehrten Sinns. So wie es dem einzelnen darin geht, so wirkt er auch auf und für andere. Und so wie er wirkt, so geht es ihm auch. Das Innenleben der Familie ist eine einzige Gefühlsverstrickung, die in den Stimmungen und Launen der Familienmitglieder lebt und gefangen ist. Nirgendwo sonst kann ein Mensch gefahrlos nach seiner Stimmung und Laune handeln, als in der Familie und nirgendwo sonst hat sein Selbstgefühl eine so abgeschlossene und zugleich anerkannte Wirkung auf andere. Jeder ist sich in diesem Selbstgefühl in (S. IV/42) Wahrheit einziger Mensch, d.h. individuell und allgemein zugleich. Denn auch die Wirkung, die diese Gefühle aufeinander haben, ist ja wiederum bloß gefühlte Wirklichkeit und von daher in den Menschen verschlossen. Überhaupt schon die Fähigkeit, Wirkliches als Erwirktes, Verursachtes zu erkennen, besteht innerhalb solcher Verhältnisse nicht, geschweige denn die Möglichkeit, dies zu verarbeiten. Das Familienglück produziert eine ungeheuere Verarmung der Menschen, deren fatalste Seite die ist, daß sie ihre Gefangenschaft nicht mehr erkennen.

Man kann sich leicht vorstellen, welche Gewalt damit verbunden ist: Gerade wo Verzweiflung droht, muß die Familie als Organ der gewalttätigen Niederwerfung der Bedrohung wirksam werden - und wo die Verzweiflung niedergemacht ist, da ist die Familie doppelt erstarkt. Was sie hervorruft und erzeugt, das kann sie auch beherrschen! Kein Wunder, daß sich bei vielen Politikern die Entscheidungen im Weltenmaß kaum von denen in der Familie unterscheiden. – Der deutsche Faschismus hat seine grundlegenden Beherrschungsmechanismen auch nur in der deutschen Familie gehabt. Die Identität von Staat und Mensch ist hier eben vollkommen!

Insgesamt besteht die Familie aus der Zweiheit von einem wahrnehmbaren zwischenmenschlichen Verhältnis, welches sich für das Leben der Menschen nicht begründet darstellt und dem sinnlichen Grund, welchen die Menschen in diesem Verhältnis suchen oder haben. Was sie in ihrem Heim wirklich haben, ist nur gegenüber der Außenwelt heimlich; – für sie selbst ist es unheimlich: Ein zwischenmenschliches Verhältnis kann man nicht haben und was man hat, dafür hat man keinen Sinn. Was hier an Tiefe zwischenmenschlicher Bezogenheit unterstellt ist, das ist für die Menschen darin Abgrund, unermeßliche Sinnesregung, sinnliche Vergeisterung. Insofern beruht das Familienleben immer auf Angst (siehe Lebensangst), denn Angst ist Einheit dieses Gegensatzes von Grund und Haben in derselben Wirklichkeit, Einengung eines Menschen von zwei Seiten, denen er beiden unterliegt.

Die Angst, welche in der Familie entsteht, unterscheidet sich von der Angst, welche aus dem Triebleben entsteht (vgl. Türspalt Nr. 9, S. 44f.), darin, daß sie von vorne herein inhaltlich ist, d.h. keinen nur vermittelten Inhalt, sondern unmittelbare Negation eines Lebenszusammenhangs ausdrückt. Innerhalb der Familie ist der Mensch Subjekt und Objekt seiner eigenen Angst, insofern er bedingt ist und als bedingter Mensch zugleich unmittelbar subjektiv handelt.

Die Angst hat hier zunächst eine Grundlage: Der Sinn, welcher in fremder Hand ist. Und weil jedes Leben sinnlich ist, muß diese festgehaltene Sinnlichkeit Angst machen. Was aber den Menschen in der Familie vollständig beherrscht, das ist die Kultur, welche sich auf diesem Verhältnis aufbaut. Nicht nur in sich und innerhalb der Familie, sondern auch als Gemeinde und Nation produziert sich eine Lebenskultur, welche diese Angst zu überwinden versucht. Und erst in der Angstüberwindung verlieren die Menschen wirklich den Sinn für ihr Leben.

Kultivationen des persönlichen Lebens oder Die verweltlichte Person

Menschen, die keinen Sinn für sich haben, müssen sich so gestalten, wie sie für andere sein sollen, um deren Gemeinschaft zu erhalten. Solange sie in ihrer Familie ihre privatmenschliche, also ihre persönliche Welt haben, haben sie in der Welt nichts. Wo sie sich daher außerhalb der Familie bei allen öffentlichen Gemeinschaften äußern, da ist ihnen diese Gemeinschaft eine übermenschliche Persönlichkeit. Diese können sie erreichen, wenn sie sich selbst zum überpersönlichen Menschen bringen.

Innerhalb des Selbstgefühls ist dies ein gewaltiger Kampf. Es gilt ja die Außenwelt der Familie wie alles als Träger dieses Selbstgefühls, - und da muß man sich dran halten! Das vorherrschende Minderwertigkeitsgefühl, welches diese Beziehung in einem Menschen ist, kann nur durch ein Überwertigkeitsgefühl niedergerungen werden; – denn wo es keinen Sinn gibt, da ist nur Wert, da kreisen die Menschen umeinander wie die Geier, um hier oder dort eine »Wertigkeitslücke« zu entdecken und niederzustoßen, was sich ihnen offenbaren könnte.

Die einzige Sicherheit, die es hier gibt, ist die allgemeine und öffentliche Gestaltung eines Selbstgefühls, an der sich alle festhalten können, solange es für jeden Sinn hat. Das allgemeingültige Selbstgefühl ist ein zur Allgemeinheit kultiviertes Gefühl: Gefühl als Kult. Darin stellt sich dar, was gewöhnlich geworden ist und zugleich für jeden notwendige Existenz hat; – gewohnte Notwendigkeit. Ein Gefühl wird dadurch kultiviert, daß es für sich wirkt, daß es also in seiner Wirkung genutzt wird; – z.B. als ästhetisches Gefühl in der Mode, als religiöses Gefühl im Gottesglauben oder als Selbstgefühl im Selbsterlebnis.

Indem die Menschen an der Wirkung solcher Gefühle teilnehmen, ist ihnen auch ihre Selbstverlorenheit, ihre Angst und Ohnmacht vergangen. In kultivierten Gefühlen erhalten sie das, was sie sonst erzeugen müßten und sie werden, was sie für ihr Selbstgefühl sein müssen: schön, erhaben, groß, sicher usf. Es kommt lediglich auf ihr Geschick an, wie sie diese Kultivation erreichen, auf die Verbindungen, die Kontakte, Treffen oder Informationen. Sie selbst müssen hierbei nichts sein und nichts erkennen! Die ganze bürgerliche Kultur besteht aus einem Gebräu solcher Gefühle, die selbst zum Inhalt des »öffentlichen Verkehrs« werden.

Bevor sie kultiviert werden können, hatten solche Gefühle einen Sinn; - Menschen waren schön, groß usw., bevor Schönheit, Größe etc. kultiviert wurde. Aber dieser Sinn existiert nicht mehr in der wirklichen Wahrnehmung solcher Kultur. Es sind zerteilte und verabsolutierte Wahrnehmungen, deren geschichtlicher Inhalt und seine gesellschaftliche Wahrheit untergegangen ist. Indem diese Gefühle die Zerteilung der Wahrnehmung mitteilen, zerteilen sie auch selbst Wahrnehmungen: die Menschen fühlen, wie solche Gefühle auf sie wirken. So wirkt die Abstraktion ihrer Gefühle im wirklichen Fühlen der Menschen und setzt damit selbst Inhalte der Wahrnehmung. Bevor sie einen Gegenstand erkennen, nehmen sie ihre Wahrnehmung wahr. Gegenständlichkeit wird zum Mittel (Mitteil) der Wahrnehmung.

Dieser Prozeß ist ungeheuer allgemein und öffentlich; – nicht mehr Lebensbestandteil exotischer Welten, sondern allgemeiner öffentlicher Umgang in der bürgerlichen Kultur, sofern diese auf nationalem Geldbesitz beruht. An einem Beispiel, an der Ästhetik in ihrer sinnfälligsten Form, an der Mode, sei dies erläutert und ausgebreitet.

In der Mode (oder Zeitkunst, Gestaltungsweise) bestehen von vornherein nur jene Gedanken, Gestaltungselemente und Glaubensfragmente, welche für eine bestimmte Öffentlichkeit zu einer bestimmten Zelt vielem gemein ist, was jenseits dieser Öffentlichkeit geweckt war: eben einer bestimmten Formierung von Sinn. Modisch ist ja nur, was sich von seiner Entwicklung abgelöst und zur selbständigen Ästhetik gebracht hat, zum Charakter, zum Typ geworden ist. Wenn z.B. eine bestimmte Kunstrichtung oder ein einzelner Künstler in Mode ist, dann setzt dies zwar voraus, daß ein »vorherrschendes Zeitgefühl« ausgedrückt wird, aber die Herkunft dieses Gefühls oder jener Gedanken ist mit der Existenz dieser Mode bereits vergangen. Über die Ästhetik vermittelt sich die Sinnfrage und -suche, welche in der Familie gegründet ist. Und wo sie ein Künstler formuliert, da wird er von seiner Formulierung sogleich beherrscht. Wo er zur Mode wird, ist seine Kunst vergangen (10).(S. IV/42)

Bis hier ist die Mode eine reine öffentliche Wahrnehmungsform. Sie kommt erst dort zu einer gesellschaftlichen Gewalt, wo sie menschliche Beziehungen ermöglicht. Wo also die Menschen vermittelst ihrer Wahrnehmungen ihr Verhältnis gründen, da produzieren sie ihr Verhältnis selbst wie ein ästhetisches Werk, als Kultivation ihrer Gefühle zur ästhetischen Gemeinschaft.

Eine Beziehung von Menschen kann für sich keine Kultivation sein. Kultivieren kann man immer nur etwas, eine Sache; – kultivierte Gefühle setzen voraus, daß Gefühle versachlicht wurden. Gefühle mußten für eine Beziehung erst nutzbar gewesen sein, bevor die Beziehung durch sie kultiviert ist. Beziehung als vergemeinschaftetes Gefühl ist selbst schon kultivierte Bezogenheit. Sie unterstellt einen Gemeinsinn, in welchem der Eigensinn gebrochen ist, bevor er dahin kommen kann. Und gerade weil die Familie überhaupt nur Eigensinnigkeit produziert, ist dieser Gemeinsinn die Stiftung einer Gesellschaft, die erstens jede Eigensinnigkeit dadurch erst zur Vollendung bringt, daß sie diese negiert – voraussetzt und in Ignoranz bewahrt – und zweitens dadurch überwindet, daß sie Sinn für jeden (also Unsinn) hat. Hier nehmen sich die Menschen, was sie brauchen, denn es geht um's Haben.

In solcher Kultivation seiner Sinne kann sich jeder gestalten, wie er will, sofern er dabei in Mode bleibt. Er kann aber auch nehmen, was er will, sofern er hierbei in Gemeinschaft bleibt. Hierauf ist für jeden eine Beziehung auf andere Menschen möglich, die überhaupt ihren Sinn nurmehr in der Kultivation der Gemeinschaft hat: Eine Gemeinde als Lebensraum kultivierter Gefühle.

Da haben wir's inzwischen auch recht weit gebracht: Es gibt keine Gemeinde, der die Freizeitgestaltung, die Denkmalpflege und die Nutzung vergangener Gestaltungskraft nicht wichtiger wäre als zum Beispiel die Sozialisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Und kein Ort kann mehr ohne eine Ausstellung seiner Gemeindekultur auskommen, - sei's auch nur eine Fußgängerzone rund um die Dorfeiche! Von der Architektur bis zum Body-Building hat sich die Welt zu einem einzigen Zweck verkehrt: Alles muß Sinn haben!

Voll entwickelt ist die Kultivierung der Gefühle Gemeindekultur und hat darin auch ihr Ende. Selbst die soziale Ohnmacht, welche im modischen Versuch noch spürbar war, hat sich durch die Avantgardisten des Alltags zur Integrationsstätte der Unsinnigkeit gebracht: zur musealen Kommunikationsstätte ewiger Menschenfreunde. Gerade hierdurch wird Gemeindekultur erst zum bodenlosen Garanten absurder Welten, denn erst hierdurch wird die Not jeder Erkenntnis durch ihre vollständige Aufhebung beherrscht. Und hierdurch ist schließlich völlig überwunden, was in der Familie vom Menschen noch sichtbar war.

Durch die Ausbreitung solcher Kulturen wird Gesellschaft selbst zum Kult. Die Menschen darin sind nicht nur ihrem sachlichen Verhältnis, den sogenannten Lebensbedingungen unterworfen, sondern direkt der Kultivation ihres Zusammenhangs. Ihre Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle werden selbst zum Bestandteil ihres »gesellschaftlichen Verkehrs« und somit der Erkenntnis entzogen; - zur Lebenstatsache. Das Problem in der Kultur ist nicht nur die Beherrschung des Menschen durch die Sache, sondern vor allem die Beherrschung des Menschen durch die Versachlichung seiner Sinne. Der Imperialismus für sich hat sein Leiden innerhalb des Körpers der Menschen.

Indem Gesellschaft zum Kult wird, sind alle menschlichen Sinne Mittel der Kultur. Die lebenden Sinne der Menschen unterliegen der Abstraktion einer Sinnlichkeit, welche den Sinn des Lebens stiften soll. Das menschliche Leben erscheint innerhalb dieser Kultur selbst sinnlos und die Sinnfrage wird zur nationalen Überlebensfrage solcher Kulturen. Die Krisen dieser Nationen sind deshalb auch nicht nur ökonomische Krisen, d.h. ökonomische Krisen treten unmittelbar nicht notwendig als solche in Erscheinung. Sie sind für die Bürger eines solchen Landes Mangel an Sinn – und das heißt unmittelbar: Mangel an Stoff.

Der Staat wird solche Krisen - wie immer – zu lösen trachten, damit seiner gesellschaftlichen, also ökonomischen und sozialen Grundlage nichts abgeht (vergl. »Die Heilkraft der Staatsgewalt« in diesem Türspalt [10/82]). Er hat ja längst jeden Sinn für menschliches Leben verloren. – Im Gegenteil: Er muß es setzen, indem er den Mangel an Stoff löst. Innerhalb der Kultur kann er das kulturell, indem er selbst den Kult zwischenmenschlicher Begegnungen stiftet (Nationalismus, Patriotismus) und phantastische Lösungen zur Allmacht bringt: Endlösungen zur Kultivation der Nation. Nach außen wird er in der Erschließung der Resourcen umso brutaler und kriegerischer. Indem er den Stoff besorgt, kann er sich von jedem Sinn vollständig ablösen und wird sich umso mehr zum Weltenherrscher machen wollen - und solange die Menschen ihre Angst und Mangelgefühle in seine Unternehmungen geben, wird ihm das gelingen. Die Kernspaltung der Menschen wird zur Zertrümmerung der Welt, denn Weltenherrscher ist in Wirklichkeit der, der die Welt untergehen lassen kann.

Die Bürger einer solchen Nation teilen die Sinnstiftungen des imperialistischen Staats nur solange, wie sie nicht erkennen, daß er zunehmend und sichtbarer im objektiven Gegensatz zu ihrem wirklichen Leben – auch zu ihren Sinnfragen - steht. Letztlich kann man diese Sinnstiftung zur Vergemeinschaftung sinnloser Körper nur teilen, wenn man an der fortschreitenden Sinnesteilung der Welt nicht nur Geschmack, sondern vor allem Macht bekommt. – Und da bleiben wenige für auserlesen.

Das Abrücken von einer absurd gewordenen Gesellschaft wirft jeden Menschen zunächst auf sich zurück. Aber es gibt immer mehr Verrückte!

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