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Verrückungen und Verrücktheit

Es gibt Wahrnehmungen, die sich zu einem Zu-Stand verfestigen, und von dem sich Menschen beherrscht fühlen. Dieser Zustand von Angst, Beklemmung, Beengung, Erregung, Lähmung, Umnachtung, Zersetzung, Flucht, Panik, Gewalt, Verfolgung, Bezwingung, Ergebenheit, Schlaflosigkeit, Zerfließen, Wähnen und ähnlichem erzeugt zudem eine Ohnmacht, das Gefühl, damit nicht mehr alleine fertig zu werden. Er kommt einem zunächst selbst wie etwas Fremdes vor, wie eine Wahrnehmung ohne Leben, wie eine fremde Macht, oder wie eine Gewißheit, die quälende, endlose Zweifel erweckt. Das treibt den hiervon Betroffenen auch oft dazu, Hilfe zu suchen, sich Beratungsangeboten anzuschließen oder »freiwillig« in die Psychiatrie zu gehen. Und aus demselben Grund teilt er auch oft mehr oder weniger das Urteil, daß in ihm etwas verrückt ist. So liefert er sich den Institutionen und Einrichtungen aus, die behaupten, diese zur Verrücktheit erklärten Wahrnehmungszustände zu therapieren.

Im günstigsten Fall ist eine solche Therapie eine Begegnung zweier Menschen in verschiedenen Rollen, die es dem einen möglich macht, deshalb mit einem ändern zu reden, weil dieser Geld dafür kriegt. Bestenfalls also ist eine solche Situation der Versuch der Durchbrechung einer Isolation angesichts einer unlösbar scheinenden Gewalt. Zugleich aber ist diese Situation der allgemeine, institutionalisierte Weg, der sich dem einzelnen als der einzige. weil fachkundige Lösungsweg ausgibt. Für den Therapeuten nämlich handelt es sich um eine psychische Krankheit, also um etwas, was nur in einem allmählichen Wachstumsprozeß sich selbst überwindet, um etwas, das gestört und auch nur im einzelnen selbst zu »lösen« ist. Der Therapeut versteht sich eben nicht als Geldempfänger für zwischenmenschlichen Kontakt; er will einen Weg geben, dort in der ausschließlichen Konfrontation zweier Menschen, im Raum eines Hauses und mit den Mitteln und dem Wissen einer wissenschaftlichen Disziplin. Ihn interessiert dieses Verhältnis gar nicht, denn es ist »normal« und vor allem auch die Grundlage seiner Existenz. Ihn interessieren meist gar keine Verhältnisse; - ihn interessiert eine »seelische Erkrankung«, also eine «Krankheit der Seele« und vielleicht noch sowas wie »pathogene Bedingungen«, Krankmachendes an bestimmten Situationen. Deshalb sind seine »Lösungswege« psychische Wege, Veränderung der Psyche eines Menschen, also Wege in Verhältnissen, die dadurch bewahrt bleiben, daß man die Verrücktheiten von bestimmten Lebenswelten an der Psyche eines Menschen abarbeitet, der die Rolle des »Ratsuchenden«, des »Klienten«, des »Betroffenen«, des »Patienten« oder »Kranken« bekommt.

Meistens geschieht durch diese Rollenzuweisung noch weit Fataleres für den einzelnen, der sich diese Hilfe angedeihen läßt: Die Beratung oder das Gespräch oder die Analyse, oder die Verhaltenskontrolle, die »Therapie« ist zwangsläufig eine Situation, in welcher das Problem nicht das sein kann, was es vorher war, sondern allgemein »angegangen« werden muß und sich der einzelne von diesem Blickwinkel aus auch nur allgemein zu verstehen und zu ändern hat. Gerade hierdurch unterliegt er vollständig der Allgemeinheit der bestehenden Begriffsapparate und Ideologien. Was er in seiner Wahrnehmung auseinandersetzt und erlebt, welche Welten dann wahr werden und was er darin erkennt, läßt sich von solchen Begriffsagenturen in dem Maße zerstückeln, wie sie sich in die allgemeine Kategorien der jeweiligen Lehrmeinung des einzelnen Psychologen oder Psychiaters einklinken lassen. In den meisten dieser Theorien steckt zudem die versteckte Selbstverschuldungsthese, daß ein Mensch einfach eine Situation, die er wahrhat, verdrängt oder daß er sich vor bestimmten Lebensverhältnissen, vor der sog. Realität verweigert oder daß er keine Harmonie mit sich findet, weil er sich auf sich nicht einläßt, keine Persönlichkeit, kein Ganzes wird, weil er seine Teile leugnet. Die Verhaltenstherapie kümmert sich als einzige »Wissenschaft« nicht um diese Selbstverschuldungsprinzipien, sondern bringt stattdessen den einzelnen schlicht und einfach dazu, das zu können, was man können muß. Das wird nur von der Psychiatrie überboten, die als letzte Einrichtung in der Therapiekette (und als häufigst genutzte) den Körper an die Not anpaßt, die er außen, also die Wahrnehmung des Problems durch Elektroschock. Hirnchirurgie oder Psychopharmaka vernichtet.

Durch die so mitgeteilte Selbstverschuldung erzeugt die Therapie - meist selbst unbewußt - zuallererst die Grundlage für eine vollständige Selbstdisziplinierung des Betroffenen. Man behauptet sich verbunden in der »gemeinschaftlichen« Bemühung, die Fehlleistungen der Seele des einen zu beheben; - und das geht eben nur bei »gutem Willen« des Betroffenen (daß der Therapeut ihn längst schon hat, versteht sich ja von selbst). Mit diesem Prinzip betreiben alle diese Agenturen das Geschäft, die Not eines einzelnen Menschen auf ihn selbst zurückzuwenden und ihn durch verschiedene Begriffe, Methoden, Techniken und Mittel zu dem Leben zu bringen, das er einfach fressen muß. Das heißt: In der Machbarkeit von solchen »Problemlösungen« verschwindet der wirkliche und auch wirklich allgemeine, der gesellschaftliche Grund dieser Not, die man in immer größerem »gesellschaftlich relevanten Ausmaß« einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung überkommen sieht (vergl. Psychiatrie-Enquete, zitiert im Türspalt Nr. 7; »Was heißt da: Psychisch krank?«).

Wir haben in den bisherigen Teilen dieser Serie dargestellt, worauf sich die Welten gründen, die solcher Not vorausgesetzt sind. Nun müssen wir darstellen, wie sie sich im einzelnen durchsetzen und zutagetreten.

Die Entrückungen der herrschenden Kultur

Es hat sich bisher (Türspalt Nr. 7 bis 9) darstellen lassen, daß die Privatisierung des Menschen zur Person nicht nur eine Sache dieser Welt ist, sondern vor allem Welten schafft. In der Familie wurde durch die Trennung von Sinn und Geist am Menschen die damit gegründete Angst zum wesentlichen Selbsterlebnis: Selbstverwirklichung als Selbstverlust zugleich. Diese Angst ist der lebende Gegensatz, durch welchen die Menschen von sich, von der Integrität ihrer Sinne und Organe, also von ihrer Selbstgewißheit getrennt sind. Nur wo es deshalb Mittel der Beziehung (S. V/55)von Menschen aufeinander gibt, nur in den öffentlichen Verkehrsformen der bürgerlichen Kultur, in der Teilhabe an Mode, Ästhetik, Religion, Anstand, Sitte oder Moral löst sich der Selbstverlust und erzeugt das Gegenteil: Selbstgewinn, das Bewußtsein persönlicher Tüchtigkeit, persönliches Selbstbewußtsein. Das öffentlich gültige und wirksame Selbstbewußtsein entsteht also durch die Aneignung der Mittel zur Selbstdarstellung und des Verhaltens, welches insgesamt zu einem kultischen Verhältnis der Menschen wird, zum Verhältnis in der bürgerlichen Kultur (vgl. Türspalt Nr. 10: »Was heißt da: psychisch krank?«).

Das wesentliche Resultat darin war, daß aus dem Ineinandergreifen von Familie und Kultur eine Welt entsteht, in welcher die Menschen selbst nicht mehr Sinn bilden und entwickeln können, sondern umgekehrt sich dem Sinn ihres Verhältnisses unterwerfen müssen, um überhaupt ein zwischenmenschliches Verhältnis eingehen zu können. Das heißt: Diese Welt hat keinen Sinn von Menschen, sondern einen Zweck für sich und bestätigt und befriedigt deshalb nur die Sinne, die keine Welt haben. Dieser Un-Sinn der herrschenden Kultur, der Kult des zwischenmenschlichen Verhältnisses, hat dadurch Gewalt und Macht auf jeden einzelnen Menschen, wie er dessen Teilnahme an diesen »zwischenmenschlichen Verhältnissen« überhaupt bestimmt und hierdurch über dessen Selbstgestaltung und Verwirklichung entscheidet.

Umgekehrt bedeutet die Teilnahme an dieser Kultur für einen Menschen einen fortwährenden Streit mit andern Menschen, die ihm seine Selbstgewißheit dadurch streitig machen, daß sie ihre Selbstgewißheit als Macht vorstellen können, als das, was »gesellschaftlich anerkannt« ist, sofern es jenen Kult mitgestaltet oder bestätigt. Alle Sinne der Menschen geraten hierdurch in eine Form, in welcher sie nur als kultischer Abglanz ihrer selbst vergesellschaftet sind, bevor sie sich überhaupt geäußert haben. Alles Verlangen der Menschen, ihre Bedürfnisse, ihr Wahrnehmen, Fühlen oder Denken tritt ihnen schon in kultischer Form entgegen, bevor ihnen eine Äußerung hierzu möglich ist. Die bürgerliche Kultur ist von daher das Gegenteil dessen, als was sie sich vorstellt. Sie ist nicht Ausdruck menschlicher Sinnesgestalten, sondern das, was sie für die Menschen wirklich bedeutet: Selbstgewinn für jedermann, der sich erst verloren haben muß, um sich in der unendlichen Bedürfnisvielfalt der herrschenden Gewohnheiten (emp)finden zu können. Insofern kann dort jeder befriedigt leben, wie er seine isolierte Aus-Einander-Setzung aufgibt: in der bürgerlichen Kultur existieren die Menschen in befriedeter Isolation.

Wo sich allerdings die gegensätzlichen Lebensräume, Familie und Kultur, in ihrer Gegensätzlichkeit überschneiden, wo der herrschende Allgemeinsinn unmittelbar als menschlicher Eigensinn erscheint, wird die hier gewonnene Entrückung zur Verrücktheit: Wo sich die Kultur familiarisiert, wo in der Kultur das geschieht, womit man sich der Familie entziehen wollte, da wird man verrückt. Menschen werden zum Verrücktsein gezwungen, indem das Kulturverhältnis der Menschen, der herrschende Allgemeinsinn, zum unmittelbaren Grund, zur Bestimmung ihrer Existenz wird.

Der herrschende Befriedigungsdrang als Bedrängung der Selbstwahrnehmung

Die Kultur ist ein zwischenmenschliches Verhältnis, das dadurch Gewalt hat, daß sie eine bestimmte Selbstvergegenständlichung des einzelnen Menschen darin verlangt. Indem jeder an diesem Verhältnis nur teilhat, wenn er sich darin auch als Teil der Kultur veräußert, hat er die Kultur zugleich als Inhalt seiner Selbstbestimmung in sich. Er nimmt andere Menschen so wahr, wie er sich hierin auch wahrhat.

Wo ein Mensch seine eigenen Äußerungen als Kult, als Bestimmung und Inhalt seiner Existenz vorfindet, da ist er als dieser einzelne Mensch aufgehoben: - aufgehoben m jedem Sinne des Worts. Er ist verloren, weil er dann nichts zu leben hat, was nicht schon Form ist, er ist bewahrt, sofern er hier nichts anderes sein und bilden muß als das, was er schon war, und er ist erhaben gegen sich selbst, weil er das, was er ist, nicht sein muß und sich sozusagen immer vom Standpunkt des eigenen Produkts anschauen kann. Diese erhabene Selbstzerstörung ist ein Vorgang, der fortwährend in dieser Kultur stattfindet.

Er ist ein unmittelbar sinnlicher Akt. in welchem das ungültig wird, was ein Mensch wirklich und für sich ist. indem er sich immer zugleich in fremder Haut entgegentritt als diese Geste, dieses Wort, dieses Lied, dieser Mensch, diese Liebe, dieses Er-Leben usw. (siehe auch Eventkultur). Da das Verhältnis der Menschen in der Kultur nur abstrakten Sinn hat, ist alles, was darin entsteht, als Mittel des Verhältnisses gewahr und so geht der einzelne gerade in dem Maße dann unter, wie er sich hiereingegeben hatte. Gerade weil die Menschen ihre Äußerungen wirklich in der Kultur hatten, wird diese von ihnen selbst ununterschieden erfahren und kommt deshalb nurmehr aus ihnen als Gefühl der Selbstvernichtung hervor.(S. V/56)

Die bedrängte Selbstverwirklichung (Angst, »Depression« und Sucht)

Die Selbstaufhebung ist nicht irgendeine private Geschichte; - sie findet ja gerade nicht an dem Menschen statt, der von ihr lebt, der sein Wahrnehmen und Fühlen aus diesem Verhältnis gewinnt. Sie wird von dem Menschen ausgedrückt, der den Sinn leben muß, in welchem er bestimmt ist und der dort gerade sich verlieren muß, wo er seine Äußerung zu leben hat. Wo die anderen Menschen erkennen, daß er Wirklichkeit verliert, haben sie die seine gerade genutzt. Und wenn er diese Vernichtung erkennt, kann er sie zugleich nicht beantworten; - es ist ja gerade seine Welt, die ihn ausschließt von sich selbst, durch welche er also sich von sich selbst ausgeschlossen fühlen muß. Was er tut, wird ihm fremd, zu einem Sinn, den er nicht mehr haben kann, weil er ihn veräußert hat, weil er Welt der anderen geworden ist und was er ist, das tut er deshalb nicht. Sein Leiden wird von seiner Tätigkeit getrennt; sein Gefühl entrückt seinem Organ. Der mit der Kultivierung gegebene Zwang zum allgemeinen Frieden hat daher ausschließende und ausschließliche Gewalt über ihn und bedrängt jetzt seine Kraft, Wirklichkeit, Tätigkeit zu erlangen. Und gerade im Fühlen dieser Gewalt ist das Selbstgefühl beherrscht (siehe Lebensangst). Die Welt ist zu, der Sinn verschlossen: Zu-Stand.

Angst

Wenn ein Mensch in seiner Lebensäußerung bedrängt ist, kann er selbst keine Gestalt unter Menschen finden; - ein Mensch ist von Menschen isoliert. Die Menschen zerstören in der Kultur nicht irgendeine lebende Substanz, sie heben ihre einfache Verbundenheit als Menschen auf; sie zerstören ihre unmittelbarste Beziehung und verkehren sie in ihr Gegenteil: Macht der kultivierten Selbstgewißheit. Die Empfindung dieser Macht ist eine absolute Ohnmachtsempfindung des abstrakten allgemeinen Bedrängtseins: Angst (Gefühl der Enge).

Angstzustände überkommen Menschen, wenn sie die unmittelbare Aufhebung ihrer Äußerung, die Wendung ihrer Verwirklichung, ihrer eigenen Wirklichkeit gegen sich empfinden. Diese Empfindung kann ohne irgendeine gewisse Wahrnehmung entstehen, weil sie ja gerade die Empfindung der Selbstungewißheit ist. Sie bezieht sich eher auf Abstraktionen dessen, was bedrängt: z.B. auf Raum (Platzangst), auf Verkehr (Angst vor öffentlichem Zusammenkommen der Menschen oder ihrem Treffpunkt), auf Tiere (z.B. Schlangen als Empfindung einer bestimmten Bewegung mit bestimmten Fähigkeiten), auf Höhen oder Tiefen (Empfindung der Bodenlosigkeit oder der Gewißheit im Abgrund) oder auf Menschen überhaupt. Solche Angst löst sich dann auf, wenn der Sinn des Angstzustands als wirkliche Bedrohung eines Menschen durch kultische Herrschaft unmittelbar erkannt, also die Äußerung eines Menschen von seiner Kultur verschieden begriffen und beantwortet werden kann.

»Depression«

Anders als Angst ist der Zustand, den man Depression nennt. Hier ist die Angst körperlich aufgehoben durch Lebenswelten, welche alle Selbstgestaltung aufgenommen haben. Es wirkt deshalb nicht unmittelbar eine fremde Macht über die Selbstgestaltung; sie erscheint durch die Selbstgestaltung eines Menschen selbst gegeben.

Depression ist keine Trauer, die ein Ereignis oder einen Gegenstand kennt. In der Depression werden Umnachtungszustände gelitten, in welchen ein Mensch bei lebendigem Leibe sein Leben verloren zu haben scheint, sich selbst in einem Brunnen lebt, der von der Welt das fremde Licht erkennt. Der lebende Körper wird zur Panik, weil er dem immer abstrakter werdenden Drang Gewißheiten abverlangt, die er nicht mehr findet. Und in dem Maße, wie er darin tätig ist, treibt er sich in seiner Selbstenthebung fort.

Dies kann, wenn kein Sinn mehr durchscheint, zu solcher Qual werden, daß viele Menschen in den Tod gehen, um sich von ihrem Körper zu lösen. Zugleich können solche Zustände aber in kürzester Zeit verfliegen, wo Menschen Vernichtungsprozesse als Wirklichkeit erkennen und sich Räume (und damit Verhältnisse) schaffen können, worin sie diese Erkenntnis zur Tätigkeit entwickeln. Depressionen können auch nur einzelne Sinne betreffen: z.B. die Haut (»Allergien«), die Assimilation (»Asthma«), die Verdauung (»Magersucht«), das Geschlecht (»Impotenz«) u.a.m. Hierbei ist immer das Organ betroffen, welches seine Äußerungen als Gewalt erleben muß, weil es in Verhältnissen lebt, in welchem der Sinn entfremdet wird, der dem Organ entspricht.

Die bedrängte Selbstentäußerung (Sucht)

Der Vorgang des aufgehobenen Selbstverlustes ist jedem von der Kultur abhängigen Menschen bekannt. Die öffentliche Befriedung ist die Befriedigung abstrakter Sinne. In der Depression war die Tätigkeit das Organ der Selbstvernichtung. Wo aber ein Mensch in seiner Leidenschaft (Leiden heißt sinnlich sein) aufgehoben wird, wo er in dem bestimmt ist, was er leidet, wo er also leiden muß, was er nicht sein kann, da entsteht ein Drang, der seinem Sinn entflieht. Hier erleidet ein Mensch die Falle der bürgerlichen Kultur von der anderen Seite: er erkennt die Objektivität kultischer Macht im anderen Menschen und erfährt sich in der Beziehung zu ihm vernichtet. Ihm wird der Körper zum Widerstand selbst und er muß tätig werden, bevor er leidet. Er wird zu einer immer abstrakteren Erregung getrieben, die er nur durch Stoffe mit Substanz füllen kann, die ihm Selbstwahrnehmungen in dieser Erregtheit ermöglichen.

Das logische »Mißverständnis« des Kulturbürgers ist, daß die Sucht quasi eine »unerlaubte« Steigerung seiner Befriedungsgier ist; - sie ist das vollständige Gegenteil: Gerade weil die durch gewohnte Befriedigung erzeugte Sinnlosigkeit Aufruhr erzeugt, muß ein Mensch, der dies erkennt, seinem Körper »nachjagen«. Und er hat auch nichts gemein mit »Trinken in der Depression«: dort wird der Körper niedergedrückt und in der Unterdrückung fixiert, hier wird er bestärkt bis zur fatalen Dosis.

Die Spaltung der Kultur als Selbstbezwingung (Zwangsgefühle und Verfolgungsangst)

Allgemein erlebt jeder Mensch in der Kultur die Unangemessenheit seines Lebens gegenüber dem Kult. Je (all)gemeiner die Kultur für das Verhältnis der Menschen wirksam ist, desto verrückter erscheinen einem die eigenen Sinne, die dort nicht zum Frieden (oder zur Befriedigung) finden. Viele Familien gründen deshalb unmittelbar (negativ) auf den Inhalten der bürgerlichen Kultur: sie sind durch die Setzung eigener Sinnlichkeit, durch behauptete Sinne bestimmt. Solche Familien erscheinen sich deshalb auch umgekehrt als das, was sie sind: obwohl sie nach wie vor der unmittelbare Raum für persönliches Leben von Menschen sind, sind sie jetzt zugleich Macht gegen den Selbstverlust, welchen die Kultur dem Menschen zufügt. Auch diese scheinbare Selbstbestimmung ist keine Willkür.(S. V/57)

Schließlich gründen Menschen immer ihr Leben dort, wo sie es beginnen; - und solche Selbstbegründung hat durchaus Sinn und Zweck, ja, sie wird von der Kultur selbst verlangt: Nichts ist sinnloser, als wenn sich abstrakte Sinne selbst sinnlos erscheinen.

Indem sich die Familie somit selbst gegen die Kultur zu bestimmen scheint, ist sie in Wahrheit deren Fortentwicklung. Sie hebt ja gerade den Mangel auf, welcher die Kultur in ihrer Selbstaufhebung weiß: sie erzeugt den Lebensraum, der den Eigensinn von Menschen so gestaltet, daß er sich selbst beherrscht. Wo sich die Menschen somit als Überwinder der Kultur gelten können, da erscheint ihnen vor allem objektive Gewalt als Selbstbestimmung.

Menschen, die hier leben müssen, weil sie hier geboren sind, erleben sich auf der einen Seite vom Drang ihrer eigenen Sinne beherrscht und auf der andern Seite empfinden sie den Kulturzusammenhang befriedigter Menschen als Gewalt über sich. In dem Maße, wie man in diesem Zwiespalt vollständig sich und die Kultur zugleich empfindet, gerät man in einen Zwangszustand, in welchem alles Handeln darauf zielt, den eigenen Körper zu bezwingen und zugleich sich der Wirkung des allgemeine Friedens zu widersetzen.

Im Zwangszustand erlebt sich der Mensch selbst als der totale Zwiespalt, Zweifel, der fortwährend handeln muß, um nicht Zwiespalt zu sein. Denn der Zwiespalt für sich ist absolute Angst und hat weder Welt noch Sinn. Das Leben hierin ist permanente Flucht, Gejagtheit in einer Kultur, die sich als Familie, als übermenschliche Persönlichkeit gibt und daher den Menschen auch zu vertreiben hat.

Menschen werden somit verfolgt, ohne den Verfolger »dingfest« machen zu können. Sie erkennen ihn, ohne ihn wissen zu können, ohne innerhalb dieser Lebensräume Gewißheit hierüber erreichen zu können. Die Verfolgungsangst wird daher zur puren Erkenntnis, welche mangels sinnlicher Gewißheit wie ein Gewissen wirkt. Die Gewalt dieses Gewissens entspringt aber nicht einfach einem isolierten »Apparat« in einem Menschen (wie das z.B. die Psychoanalyse behauptet), sondern ist unmittelbar wirklicher Lebensbestandteil: Verfolgung geschieht wirklich und einfach im alltäglich erzwungenen Selbstzweifel.

Im Zwangszustand erkennt der Mensch einen Zwiespalt, den alle Menschen leben. Er kann dann den Zustand verlassen, wenn er seinen Sinn von der Welt befreien und Räume entwickeln kann, worin für diese Befreiung ein Organ geschaffen wird.

Die Kultur als Gattungswesen (Getrennte Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen)

Familie und Kultur waren bisher voneinander abhängige Lebensformen privatisierter Menschen. Sie waren einander entgegengesetzt und haben sich zugleich gegen einander aufgehoben. Dieser Mangel, welcher beide Seiten und damit die bürgerliche Kultur überhaupt beherrscht, wird dann aufgehoben, wenn Menschen ihre Kultur unmittelbar persönlich haben, wenn also die Inhalte der Kultur identische und ungebrochene Inhalte der Familie sind und wenn die Menschen in der Familie sich auch unmittelbar kulturell, also vermittels ihres gemeinschaftlichen Kults zueinander verhalten.

Auch dies ist keine persönliche Entscheidung. Sie ist immer dann zwangsläufig, wenn das öffentliche Leben der Familienmitglieder mit ihrem privaten zusammenfällt, wenn also das öffentliche Leben unmittelbar Familienleben ist; - oder anders ausgedrückt: wo die ökonomische Selbständigkeit einer bestimmten Welt vollständig ist, wo also Geld die absolute Lebensgrundlage ist (vergl. den 1. und 3. Teil dieser Folge), da kann die Kultur selbst zur allgemeinen Persönlichkeit werden. Eine Familie kann sich also dann gar nicht mehr von der Kultur unterscheiden!

Solche Welten gibt es daher vor allem dort, wo die heimliche Welt zugleich öffentliche Welt ist. Das können kleine oder große Welten sein: z.B. die Welt der Einöden und Gehöfte, die Welt der arbeitslosen Bauern und Arbeiter, die Welt der Fürsorge und Heimerziehung, die Welt der Vorstadtsiedlungen und Kleinbürger, die Welt der Kapitalisten und Wohlfahrtsbürger oder auch nur die Welt des kleinen Beamten. Wesentlich ist hierbei lediglich, daß die Welt nicht nur durch die Familie besteht, sondern in dieser selbst und vollständig aufgehoben, also verarbeitet, zerarbeitet und entgegengesetzt wird.

Wo Kultur und Familie vollkommen identisch sind, wo sich die öffentlichen Verhaltensformen mit denen der Familie vollkommen identifizieren, da sind die Menschen füreinander absolute Form als absolute Menschen, körperlose Menschen als absolute Menschenverkörperungen. Sie unterscheiden sich daher wesentlich auch nur formell, während sie zugleich wirklich vollständig verschieden leben. So gibt es z.B. absolute »Rollenunterschiede« unter Geschwistern innerhalb derselben Familie, die wie Wesensunterschiede gelebt werden, ohne wesentlich unterschieden, also eigenes Wesen sein zu können. Die Menschen formieren ein Wesen, an welchem sie gemeinschaftlich teilhaben, eine Welt, die sich zugleich selbst als Welt vorstellt und daher nur in »Rollenunterschieden« verläuft. So wird innerhalb der Familie schon die vollständige Formierung des Menschen durch das Verhältnis der Menschen zueinander betrieben.

Wo also die öffentliche Welt und die Familie zusammenfallen, da werden auch alle Regungen der Menschen im vorhinein beherrscht, da das Verhältnis vor jeder einzelnen Regung und das Verhalten vor jedem einzelnen Sinn steht. Dies ist sowohl von der Seite der Familie zur Öffentlichkeit wie auch von der Öffentlichkeit zur Familie möglich, nämlich dort, wo die Öffentlichkeit selbst familiäre Räume schafft und wo sich die Familie unmittelbar veröffentlicht.

Da sich hier ein Mensch unmittelbar objektiv erlebt, ist für ihn zugleich jede Objektivität wie ein Subjekt, wie absolute Lebensgewalt. Es gibt keinen Zweifel mehr: Die Welt und er sind eins.(S. V/58)

Dies aber ist absoluter Widersinn: wo sich ein Mensch äußert, ist seine Äußerung zugleich Gewalt gegen ihn; was er tut, wird ihm zugleich vorgeworfen und was man ihm vorwirft, das tut er. Dies ist nicht nur ein Widersinn der »Kommunikation«, wie das von Wissenschaftlern dieses Fachgebiets gerne behauptet wird. Sie drückt ja nur, sofern sie noch unbewußt geschieht, das aus, was hierin wahr ist: Die Gewalt über einen Menschen erscheint in solchen Verhältnissen absolut von ihm selbst hervorgerufen. Schließlich ist ja er es, der Antwort verlangt; aber er muß sie sich auch selber geben. Das »Gegenüber« muß nicht handeln, es muß einfach sein, und schon treiben sich die Bestimmungen dieses Verhältnisses in das Verhalten selbst hinein.

In der Wahrnehmung kann er sich daher auch nur als das fühlen, was er durch andere zu sein scheint: Form für jeden. Und während er wähnt, was in ihn gesetzt wird, muß er zugleich vollziehen, was er dann für andere sein muß. Umgekehrt kann er eben dann nur für sich sein, wenn er wirklich etwas für andere ist. Der verausgabte Körper erkennt die eigenen Regungen in der Erregung der anderen.

Hier besteht eine Welt, worin das Subjekt der Wahrnehmung unmittelbar Gegenstand derselben, objektiv ist. Es sind Welten, worin der Gegensatz von Menschen allein durch die Menschen selbst gelebt wird; wo sich die Menschen absolut gleich sind und empfinden, wo die Väter ihre Tochter nicht mehr von ihrer Geliebten unterscheiden, wo die Söhne ihrer Mutter zum Lebensinhalt geworden sind und wo der Nachbar sich auch nicht mehr vom Bruder unterschieden erkennen läßt. Gerade weil der Gegensatz nurmehr in der Existenz liegt, also im »Vater-Sein« gegen »Tochter-Sein« etc., wirkt er vollkommen im Körper der Menschen, während ihre Welt den Gegensatz leugnet.

Der Unterschied wird eben nicht erfahren, er wird gelebt. Indem ein Mensch hierdurch zwei verschiedene Wirklichkeitszustände erlebt, die er zunächst nicht aufeinander zu beziehen vermag, erkennt er die in der Familie angelegte Trennung von Geist und Sinn auch wirklich, aber nicht gleichzeitig. Ihn überkommt das eine wie das andere mit körperlicher Gewalt: schubweise.

Was von der Psychiatrie mit Schizophrenie bezeichnet wird, ist nichts anderes als das Nebeneinandererleben von geistiger Erkenntnis und sinnlicher Erkenntnis, wobei meist das Geistige als irreal disqualifiziert wird und somit das sinnliche Leben als normal festgehalten werden soll. Von daher entstehen die Bemühungen der Psychiatrie, jedwedes geistige Erkennen von vornherein verhindern zu müssen. Die Psychiatrie ist die Einrichtung, welche Empfindungen dieser Kultur am meisten fürchtet. Sie ist die brutalste und gewaltigste Agentur der bürgerlichen Kultur, indem sie - ohne daß sie hierfür sonderlich eines Bewußtseins ihres eigenen Tuns bedürfte - gerade dort der absolute Seelenpolizist ist, wo sie sich am hilfreichsten zeigen will: mit ihren Disziplinierungs- und Vernichtungswerkzeugen, mit ihren »Heilmitteln«. Mit ihnen schlägt sie einfach mit dem Argument der »Effizienz« und des »Mitgefühls« das nieder, was nach Änderung verlangt. Solange aber die Psychiatrie hier nicht ihre Mittel reinbringt, solange sich Menschen also gegen sie wehren können, solange es also Menschen gibt, die sich auch außerhalb der Kultur verhalten und denen daher diese Trennung keine Angst macht, und sofern Räume geschaffen werden können, in denen eigene Arbeit gebildet werden kann, wird sich das Nebeneinander solcher Wahmehmungszustände dort von selbst auflösen, wo eigene Gestalt entwickelt wird.

Die wirkliche Verrücktheit

Die eigentliche Verrücktheit beginnt erst dort, wo die Not selbst beherrscht wird, wo durch die »Behandlung« der Not diese selbst verrückt wird, wo der Therapeut seine Therapie als Krankheit des Opfers verkennt und wo diese Verkennung zur allgemeinen gesellschaftlichen Realität wird. Die eigentliche Verrücktheit ist die Anstalt der Not, die Veranstaltung ihrer Beherrschung. Was sich in Menschen von ihren Lebensverhältnissen ausdrückt, ist Teil ihrer Geschichte und ihre Arbeit besteht eben auch dann, diese Bedingungen zu ändern, zu bekämpfen und zu überwinden. Solange das Ineinandergreifen der bürgerlichen Lebensformen Not erzeugt, stehen die Menschen in ihrer Not auch vor diesen Verhältnissen. Erst dadurch, daß diese Not zur Krankheit verklärt, zur mystischen Eigenart einzelner Individuen verdreht und deshalb mit allen Mitteln bekämpft wird, entsteht eine wirklich verrückte Welt: Da erscheint das Produkt der Heilung, der unterworfene Mensch, als Grund und Bestätigung hierfür.

Die »fortschrittlichen Nationen« haben sie inzwischen zu einem lückenlosen Therapiesystem entwickelt, das sich in fast jedem Bereich menschlichen Lebens einzuschmeicheln versteht. Diese Sozialagenturen sind für das Fortbestehen verrückter Lebensverhältnisse das wichtigste Werkzeug. Als der große Bruder jedes Menschen wird jeder Mensch zum kleinen Bruder, zum solidarischen Krüppel einer an und für sich intakten Welt. Der Widerstand gegen das Sozialsystem muß deshalb in erster Linie an seiner therapeutischen Funktion ansetzen.

Wolfram Pfreundschuh